Nordwind: Kriminalroman (German Edition)
zum Grübeln, sondern musste eine Entscheidung fällen.
Er drückte mit dem Daumen auf die Taste.
An die Wand gekauert, flüsterte er seine Nachricht. Seinen Notruf. Dann legte er auf, obwohl man ihn nicht dazu aufgefordert hatte. Er fühlte sich wieder stärker.
Er stand auf, ging zum Eingang und drehte den Knauf um. Dann stieß er die Tür auf.
»Henrik.« Katja Nyberg lächelte ihn an.
Sie betrat die oberste Treppenstufe. Das Gewehr schien sie nicht bemerkt zu haben.
»Komm mir nicht zu nahe«, sagte er.
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»Hier ist es«, sagte Fredrik.
»Das sehe ich.« Sara trat kräftig auf die Bremse.
Obwohl sie sich auf einer geraden Strecke befanden, war das Schild überraschend plötzlich aus der Dunkelheit aufgetaucht.
Sara bog nach Kalbjerga ab. Kurz darauf ratterte eines der Viehgitter unter ihnen.
»Ich werde nicht schlau aus dem Kerl«, sagte Sara. »Warum hat er uns nie von Katja Nyberg erzählt?«
»Tja«, seufzte Fredrik. »Schuldgefühle, Scham. Etwas in der Richtung vielleicht?«
»Wieso Schuldgefühle?«, fragte Sara fast verächtlich.
»Hast du noch nie Ermittlungen erlebt, die in eine Sackgasse geraten, weil die Leute ihre Affären verschweigen?«
»Doch, natürlich, aber hier geht es um Mord. Seine Frau und sein Kind wurden getötet. Ist das nicht wichtiger?«
»Umso stärker sind seine Gewissensbisse. Vielleicht denkt er, das alles sei seine Schuld. Wäre er nicht mit dieser Frau in Kopenhagen fremdgegangen, wäre das alles nie passiert.«
»Aber er muss doch trotzdem wollen, dass diejenige, die das getan hat …« Sara seufzte frustriert.
»Oder er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es Katja war, und daher war die Motivation nicht groß genug, sich über das schlechte Gewissen hinwegzusetzen«, mutmaßte Fredrik. »Da war es eventuell leichter zu schweigen.«
»Widerlich«, zischte Sara gegen die Windschutzscheibe. »Männer. Seid ihr alle so?«
Im Auto wurde es still. Einen Augenblick lang dachte Fredrik an Eva Karlén. Und die Frau in dem Kriminaltechnikkurs vor vielen Jahren. Er wollte gerne glauben, dass er besser war als andere, aber vielleicht war er das nicht.
»Entschuldige bitte«, sagte Sara. »Das macht mich nur so …«
Sie wurde von einem Anruf über Funk unterbrochen.
»Hier spricht Vier-Vier. Wir haben einen Notruf erhalten. Die Verdächtige in dem Mordfall auf Fårö befindet sich im Haus der Hinterbliebenen der Opfer in Kalbjerga. Ich wiederhole …«
Fredrik und Sara sahen sich an.
»Vier-Vier an Vierundvierzig-Fünfundachtzig-Zwanzig, bitte kommen«, hörten sie Annas Stimme aus der Telefonzentrale.
»Vierundvierzig-Fünfundachtzig-Zwanzig, kommen«, antwortete Fredrik.
»Ich sehe, Sie sind nur wenige Kilometer von Kalbjerga entfernt, kommen.«
»Ja. Wir sind unterwegs zu einer Befragung von Henrik Kjellander. In fünf Minuten müssten wir da sein, kommen.«
»Wartet kurz, ich geb euch den Wachhabenden, kommen.«
Es knackte im Gerät, und statt Annas Stimme hörten sie nun den Wachhabenden.
»Kjellander hat die 112 gerufen. Er war sich ganz sicher, dass Katja Nyberg vor der Tür stand. Leider ist das alles, was wir wissen. Die Verbindung wurde unterbrochen, kommen.«
»Habt ihr versucht, ihn zurückzurufen, kommen?«
»Das machen wir gerade. Bis jetzt ohne Erfolg, kommen.«
Sara trat aufs Gaspedal, und kurz darauf fuhren sie fast doppelt so schnell wie zuvor.
»Okay, was macht ihr jetzt, kommen?«, fragte Fredrik.
»Wir schicken Verstärkung. Geht zum Haus, aber seid verdammt vorsichtig und meldet euch, sobald ihr mehr wisst. Falls die Lage auch nur im Geringsten unklar ist, wartet ihr, bis die Verstärkung da ist. Verstanden, kommen?«
»Ja«, sagte Fredrik, »verstanden, kommen.«
»Wir haben die Fähre angehalten, damit die Verstärkung sofort rüberkommt, aber die anderen Wagen sind noch in Visby. Stellt euch also darauf ein, dass sie von jetzt an noch circa eine Stunde brauchen, kommen.«
»Bis dahin tun wir, was wir können, Ende, kommen«, erwiderte Fredrik.
Die schmale Straße kam in den Lichtkegeln ihrer Scheinwerfer auf sie zugerast. Schotter spritzte, und kleinere Steine knallten gegen den Unterboden des Wagen. Sara bremste vor einem Viehgitter, gab danach jedoch sofort wieder Gas.
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Schlussendlich hatte Henrik sie dazu bewegen können, sich auf einen Stuhl in der Laube zu setzen. Dafür hatte er eine Ewigkeit gebraucht und all seine Überredungskünste aufwenden müssen. Entweder sie hörte nicht zu, oder sie
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