Nordwind: Kriminalroman (German Edition)
machen. Wir kümmern uns um Katja. Sie können das Gewehr jetzt hinlegen.«
Aber Henrik saß da wie gelähmt.
»Sie wissen, dass Sie nicht abdrücken dürfen. Wenn Sie das tun, kommen Sie erst aus dem Knast, wenn Ihre Tochter erwachsen ist. Ellen wird in einer Pflegefamilie aufwachsen.«
Henrik atmete schwer und senkte den Kopf ein wenig.
»Henrik«, versuchte es Fredrik erneut, »tun Sie es Ellen zuliebe.«
Fredrik hörte, wie Henrik Luft holte und dann schluckte.
»Sie bekommen das Gewehr«, sagte er heiser.
»Gut«, erwiderte Fredrik. »Das ist die richtige Entscheidung. Tun Sie jetzt, was ich Ihnen sage. Legen Sie das Gewehr neben sich auf den Boden.«
Henrik atmete erneut tief durch.
»Ganz ruhig und vorsichtig«, sagte Fredrik. »Mit dem Kolben in meine Richtung.«
Henrik beugte sich hinunter und legte die Waffe ab.
»Und jetzt schieben Sie das Gewehr so weit wie möglich nach hinten.«
Henrik tat, was Fredrik von ihm verlangte.
»Und jetzt?«, fragte er tonlos.
»Bleiben Sie einfach sitzen«, sagte Fredrik.
Als Henrik wieder aufrecht saß, ging Fredrik auf ihn zu und stellte einen Fuß auf den Gewehrkolben. Erst dann beugte er sich hinunter und hob die Waffe auf.
Er entfernte sich ein Stück, steckte seine eigene Waffe in den Gurt, öffnete das Gewehr und nahm die Patronen heraus. Noch immer ließ er Henrik nicht aus den Augen.
»Henrik.«
»Ja.«
»Ich möchte, dass Sie aufstehen und sich auf die Treppe setzen.«
»Okay«, antwortete Henrik.
Müde stand er auf und ging zur Treppe. Als er dort angekommen war, drehte er sich zu Fredrik um.
»Darf ich zu Ellen?«
»Ist sie im Haus?«
»Ja, in ihrem Zimmer.«
»Gleich«, sagte Fredrik. »Zuerst bringen wir Katja zum Auto. So lange bleiben Sie bitte auf der Treppe sitzen. In Ordnung?«
Ohne ein weiteres Wort sackte Henrik auf die Treppenstufe.
»Danke«, sagte Fredrik.
Er wollte kein Risiko eingehen und Henrik keine Gelegenheit geben, mit einem Messer wieder aus dem Haus zu stürzen und sich auf Katja Nyberg zu werfen.
Fredrik ging zu ihr hinüber und legte das ungeladene Gewehr ins Gras. Dann befahl er Katja, mit den Händen hinter dem Kopf aufzustehen. Er griff nach den Handschellen und bog ihr die Arme auf den Rücken.
»Fertig?«, fragte Sara.
»Ja.«
Fredrik sah, wie sie sich entspannte und ihre Pistole in den Gurt steckte. Sie packten Katja Nyberg rechts und links an den Oberarmen und führten sie aus der Laube.
»Wenn wir sie zum Wagen gebracht haben, komme ich wieder herunter«, sagte er zu Henrik.
Henrik nickte stumm, als sie mit Katja in der Mitte an ihm vorbeigingen. Keiner verlor mehr ein Wort.
Als sie die Hälfte des Hügels erreicht hatten, warf Katja Henrik über die Schulter einen Blick zu. Fredrik drehte sich ebenfalls um. Henrik war aufgestanden und stand jetzt im hellen Lichtkegel der Türlampe. Er starrte ihnen hinterher. Fredrik hatte noch nie jemanden gesehen, der so einsam aussah.
93
Am Montagnachmittag war es im Polizeigebäude ruhig. Und heiß. Am Vortag war die Sommerhitze mit voller Wucht zurückgekehrt. Fredrik hatte den ganzen Sonntag freigehabt und den Tag – oder zumindest die Zeit zwischen dem Aufwachen mittags um zwölf und dem Abschied um halb vier an der Fähre – mit Joakim verbracht.
Er hatte ihn gefragt, welche Bilder er als Fotograf am liebsten machen würde. Joakim hatte grinsend geantwortet, das wisse er nicht. Fredrik hatte ihm von dem Besuch bei Janna Drake und den zwei verschiedenen Welten an der Wand über dem Empfang erzählt, die Kinder in dem Slum und das Fotomodell auf dem Pferd. Er hatte Joakim angemerkt, dass der Junge nicht ganz verstand, wo das Problem lag. Vielleicht bildeten die beiden Fotos nur im Kopf eines Mannes, der in den Sechzigern geboren war, einen Gegensatz.
Fredrik ließ das Wasser in der Teeküche laufen, bis es eiskalt war. Er füllte zwei Gläser und trug sie in den Verhörraum.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte er Henrik Kjellander, der ihn bereits erwartete.
Henrik sah ihn mit müden Augen an. »Ja, klar«, sagte er heiser.
Fredrik stellte die Gläser auf den Tisch. Henrik bedankte sich und trank ein paar tiefe Schlucke.
»Ich habe heute Nacht kaum geschlafen«, erklärte er. »Ich glaube, ich habe überhaupt nicht geschlafen.«
Seine Stimme klang nun klarer, vielleicht lag das am Wasser. Er stellte sein Glas auf den Tisch.
»Ich kann das alles nicht fassen. War sie es wirklich?«
»Ja.«
»Sie meinen, sie war es die ganze Zeit?«
»Sie
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