Nordwind: Kriminalroman (German Edition)
die Glocken zu läuten begannen, sah er sich vorsichtig um. In der zweiten Reihe auf der anderen Seite des Mittelgangs saßen drei Freunde von Malin, die aus Stockholm gekommen waren. Tyra hatte im Café Keks gearbeitet, die anderen beiden, Viktoria und Måns, hatten sie noch vom Gymnasium gekannt. Hinter ihnen saßen Janna, Thomas und Agnes und dahinter Bengt und Ann-Katrin, ihre Nachbarn.
Zwei leere Bänke weiter entdeckte er Alma, seine Schwester.
Beim Betreten der Kirche hatte er sie gar nicht bemerkt. Er versuchte ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber ihr Blick war auf die Särge und den Altar gerichtet.
Die Trauerfeier sollte in der Fåröer Kirche und die Bestattung in Stockholm stattfinden. Darauf hatten sie sich trotz der eisigen Kälte, die zwischen Ewy und Staffan auf der einen und ihm auf der anderen Seite herrschte, schnell geeinigt. Da es ihnen so schwerfiel, miteinander zu reden, hatten sie vereinbart, dass Henrik die Einzelheiten der Trauerfeier bestimmen sollte, während Ewy, Staffan und Maria sich um die Bestattung kümmerten. Unterschwellig wurde bei all dem ein unausgesprochener Kampf darüber ausgefochten, zu welcher Familie Malin eigentlich gehörte. Zu der, in die sie hineingeboren worden war, oder zu der, die sie mit ihm gegründet hatte. Henrik konnte nur hoffen, dass dieser Streit auch im Verborgenen blieb. Er wollte keinen Krieg um Malins toten Körper führen.
Maria sprach noch mit ihm. Vielleicht konnte sie ihn nicht so einfach verurteilen. Zwischen ihnen beiden stand ein anderes Hindernis. Trotzdem saß sie neben ihm. Nein, neben Ellen. Vielleicht nur Ellen zuliebe.
Die Pastorin stellte sich ans Kopfende der beiden Särge und eröffnete die Trauerfeier.
»Wir haben uns heute hier versammelt, um Malin Andersson und Axel Andersson Kjellander zur letzten Ruhe zu geleiten. Mutter und Sohn …«
Die vertrauten Worte der Pastorin holten Henrik mit einem Schlag zurück ins Hier und Jetzt. Die Beerdigung, der Tod. Malin und Axel. Ihre Körper in den Särgen. Unter den Deckeln. Er konnte nicht begreifen, dass sie sich wirklich unter diesen weißen Deckeln befanden. Wie lagen sie da? Wie sahen sie aus?
Ellens Hand fühlte sich klebrig an. Die Trauergemeinde schwieg. Der Kirchenraum war weiß und schlicht. Ein Altarraum mit zwei Türen zur Sakristei, eine Kanzel in der Ecke. Die Stimme der Pastorin. Sie sprach über Malin und Axel. Er hörte den Wind draußen und ein Auto, das vorbeifuhr.
Henrik hatte sich dreimal mit der Pastorin getroffen, um zu besprechen, wie er sich die Andacht vorstellte. Vor allem hatten sie über Malin und Axel geredet. Er hatte versucht, die beiden zu beschreiben. Sie hatte ihm zugehört und hin und wieder eine Frage gestellt. Auch wenn er manchmal innehalten musste, weil ihm die Worte ihm Hals stecken blieben oder der Tod zu real wurde, war es ihm nicht schwergefallen, über die beiden zu sprechen.
Bei ihrer letzten Begegnung vor der Trauerfeier hatten sie über Schuld gesprochen. Über sein Gefühl, an all dem schuld zu sein. Es ließ sich nicht leugnen. Wie man es auch drehte und wendete, irgendwie war es dennoch letztendlich sein Fehler gewesen.
Die Pastorin hatte ihm lange zugehört. Dann hatte sie ihn mit einem Blick angesehen, der mitfühlend und fordernd zugleich war, und gesagt: »Ich glaube, Ihre Schuld braucht Sie nicht so sehr, wie Sie Ihre Tochter braucht.«
Dank
Ein großes Dankeschön an Daniel Åhlén von der Polizeibehörde Gotland und den ehemals dort beschäftigten Sune Jacobsson, dessen Ratschläge ich mir immer anhöre und meistens befolge. Manchmal muss sich die Realität jedoch der Fiktion unterordnen.
Vielen Dank auch an Inger Nennesmo und Lars Rambe, die mir bei medizinischen und juristischen Details geholfen haben.
Nordwind ist teilweise von wahren Ereignissen inspiriert, aber ebenso wie die Geschichte in ihrer Gesamtheit sind alle Romanfiguren erfunden.
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