Nore Brand 03 - Racheläuten
verschwand, tauchte wieder auf, ein Mädchen verschwand, vermutlich mit ihrer Schildkröte, eine Firma innerhalb dieses Kreises befand sich auf einem unglaublichen Höhenflug, aber der junge Finanzchef hatte sich auf spektakuläre Art und Weise umgebracht. Sagte man.
Hatte er seinen Tod inszeniert? In dieser Gesellschaft wurde alles inszeniert. Man inszenierte auf Teufel komm raus bis zum bitteren Ende. Wenn es denn sein musste, warf man sich in den leeren Bärengraben und erschoss sich dort.
Sie war sich nicht sicher in Bezug auf die Reihenfolge, doch das würde sie in Erfahrung bringen. Auf jeden Fall musste der junge Kerl gewusst haben, dass sich am nächsten Morgen viele Augenpaare von neugierigen Touristen über die Brüstung des alten Bärengrabens beugen würden. Sie taten das automatisch, man schaute einfach in den Graben hinein, auch wenn man wusste, dass die Bärenfamilie nur wenige Schritte entfernt im Park am Aarehang lebte.
Der Mensch schaute gern in Abgründe und war erleichtert, wenn dort nur Hasen herumhoppelten.
Doch an jenem Morgen lag ein Toter da.
Ihre Gedanken gingen zurück zu Wilma.
Sie war immer unterwegs, hatte immer ein Ziel, die Schule oder der Spielplatz. Und nun war sie bei ihrer Großmutter. Wo wohnte die?
Von anderen Zielen wusste Nore Brand nichts. Wie sollte sie das auch wissen?
Was sie von der Kleinen wusste, war, dass sie oft mit Julius unterwegs war, dabei wirkte sie lebhaft und unbeschwert. Die Gedanken schon beim spannenden Ziel. »Hilfst du mir suchen?«, hatte sie gefragt.
Nore Brand hatte es versprochen.
Ihr Versprechen jedoch nicht gehalten.
Doch Dominik war wieder aufgetaucht. Nore Brand schämte sich trotzdem. Sie hatte das Vertrauen der Kleinen verspielt. Sie hoffte, dass sich ihre erste Begegnung an jenem Winterabend auf die Dauer günstig auswirkte. Sie beide verband immerhin ein Geheimnis. Nore Brand vermutete, dass Wilma ihrer Mutter nichts erzählt hatte.
Sie kannte Julius nicht, doch er war außer sich gewesen. Vielleicht bedeutete das nicht viel. Aber er war zu ihr gekommen. Irgendetwas schien ihn sehr zu beunruhigen. Doch dass Julius nichts von Wilmas Besuch bei der Großmutter wusste, kam ihr sehr seltsam vor. Einem Spielgefährten würde man so etwas doch erzählen. Sie erinnerte sich an ihren kindlichen Stolz, wenn sie von einem Ausflug erzählen konnte.
Dieses Gefühl, etwas tun zu dürfen, an dem die andern nicht teilhatten. Dieses Gefühl von Glück, das mit anderen geteilt werden musste, um es wirklich auszukosten. Erleben, dass sie eben gerade ein bisschen mehr davon hatte als die anderen.
War es in Ordnung, ihre eigenen Erfahrungen zu Hilfe zu nehmen, um Wilmas Schweigen zu verstehen?
Nore Brand war dabei, Neuland zu betreten. Wie konnte man Kinder verstehen? Was ging wirklich in ihnen vor?
Es war schwierig, mit den eigenen Erfahrungen eine Brücke zu bauen, denn ihre eigene Kindheit lag unendlich weit zurück.
Dieser Fall schien unübersichtlich, bevor sie mit der Arbeit angefangen hatte. Sie holte ihr Notizbuch hervor.
Eine Schildkröte war verschwunden und wieder aufgetaucht. Und nun war ein Mädchen verschwunden, die kleine Besitzerin der Schildkröte. Julius hatte von einem Fremden erzählt, der Jagd auf Schildkröten machte. Wegen der Suppe.
Nore Brand las, was sie notiert hatte, und fand es lächerlich. Doch sie ließ es stehen. Sie hatte nicht selten erlebt, dass in den seltsamsten Beobachtungen, in hirnrissigen Gedankengängen und auch in merkwürdigsten Formulierungen sich die Wahrheit plötzlich zeigte.
Sie notierte auch, dass Bastian Bärfuss ihr auf noch kompliziertere Art als üblich erklärt hatte, dass man im Fall Federico Meier wieder ermittelte. Man würde dieses Mal diskret vorgehen, ohne Mikrofonwälder. Auf diesen letzten Punkt, auf die größtmögliche Diskretion, schien er ganz besonders Wert zu legen.
Ihr selber schien viel interessanter, dass Bärfuss versprochen hatte, ihr zu einem späteren Zeitpunkt eine Erklärung abzugeben.
Sie steckte das Notizbuch zurück in die Tasche. Wenigstens Bärfuss war der Ansicht, dass ihre Ermittlungsmethoden ausreichen würden. So wie dies bisher immer der Fall gewesen war.
Nore Brand wollte keine Mikrofone. Es gab keinen einzigen triftigen Grund, alles via Mikrofone oder fette Lettern der ganzen Welt kundzutun. Ihr Kollege dachte zeitgemäßer: Wer nicht lauthals über seine Arbeit spricht, riskiert, dass man ihn der Untätigkeit verdächtigt.
Dieses Risiko konnte sie
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