Nore Brand 03 - Racheläuten
eingehen. Es war ganz sicher nicht lebensbedrohlich.
Sie nahm ihre Jacke und verließ die Wohnung. Es war still in der Wohnung. Wenn es so still war, dann lag Jacques auf dem Sofa und dachte nach. Dann sogen die Schwarzen Löcher des Universums an ihm.
Im Treppenhaus stellte sie fest, dass sie vergessen hatte, kurz bei ihm reinzuschauen, um ihm mitzuteilen, dass sie ging. Er mochte dieses Ritual. Doch wenn sie zurückkam, schaute er hoch, mit diesem erstaunten Blick: Was? Du warst weg?
Also ging sie weiter.
An der Länggassstrasse blieb sie einen Augenblick zweifelnd stehen. Da sah sie in der Ferne den 12er Bus vom Bahnhof herkommen. Einer Eingebung folgend rannte sie über die Straße, um diese Zeit war nicht viel Verkehr, und sprang auf den Bus Richtung Bremgartenwald.
Nino war an der Arbeit; sie würde später zu ihm stoßen.
Eine Schülerin, die durch den Gang trödelte und ganz selbstvergessen eine SMS schrieb, erschrak, als sie die Kommissarin mitten im Korridor stehen sah. Rasch steckte sie ihr Handy in die Hosentasche.
Nore Brand nickte ihr zu.
»Kannst du mir sagen, in welchem Klassenzimmer Wilma Fink ist?«
»Wilma? Ja, klar!« Das Mädchen ging eifrig voraus und zeigte mit einem so freundlichen wie schuldbewussten Lächeln auf eine Tür.
Nore Brand lächelte. »Danke.«
Das Mädchen eilte weiter und verschwand hinter der nächsten Klassenzimmertür.
Nore Brand klopfte.
Kurz darauf stand der Klassenlehrer von Wilma vor ihr.
»Frau Brand?«, sagte er und zog seine Stirn fragend zusammen.
Sie erkannte diesen Mann.
Sie hatten zusammengearbeitet, als in einem Schulprojekt die Polizeiarbeit vorgestellt wurde. Sie erinnerte sich an schüchterne Kindergesichter. Natürlich hatten alle etwas zu verbergen. Die meisten waren sich nur noch nicht im Klaren darüber, ob sich die Polizei für ihre Vergehen interessierte. Die anfänglich ängstliche Zurückhaltung legte sich rasch, und sie wurde mit Fragen überhäuft.
»Letzte Woche hat jemand die Leiter zu meiner Baumhütte kaputtgemacht. Wie lang muss der ins Gefängnis, wenn ich ihn finde?«, wollte ein stämmiges Mädchen wissen.
Es war Nore Brand sehr schwergefallen, sie alle zufriedenzustellen.
Der Lehrer gab ihr die Hand, trat über die Schwelle und zog die Türe hinter sich halb zu.
»Herr Zehnder«, begann sie, sie hatte seinen Namen auf den Stundentafeln im Korridor gesehen, »Julius war heute Morgen bei mir«, sagte sie halblaut. Sie wollte nicht, dass die Kinder sie verstehen konnten. »Wegen Wilma. Sie sei nicht zu ihrem Treffpunkt gekommen.«
Herr Zehnder ließ die Türklinke los und stopfte sein Hemd in die weite Cordhose. »Das ist aber beruhigend, wenn sich die Polizei so um unsere Kleinen kümmert!« Er passte sich ihrer Lautstärke an.
Über seine Schulter hinweg sah sie durch den Spalt die vielen neugierigen Kindergesichter, die sich umgedreht hatten. In der hintersten Reihe sah sie Julius; er fiel fast vom Stuhl vor Aufregung. Er winkte kurz und beugte sich sogleich wieder über sein Heft.
Herr Zehnders Hemd war endlich eingepackt. Vielleicht nicht dort, wo er es haben wollte, doch das schien ihn nicht weiter zu kümmern.
»Wilmas Mutter hat in der Pause angerufen. Die Kleine sei bei ihrer Großmutter.«
»Entschuldigen Sie, ich habe da keine Erfahrung, aber kommt das öfter vor?«
Der Lehrer schaute leicht irritiert.
»Ich weiß nicht, ob …«
»… mich das etwas angeht«, lächelte sie beruhigend. »Ich verstehe. Aber ich war Wilma etwas schuldig. Sie war letzten Samstag bei mir, weil ihre Schildkröte verschwunden war.«
Nore Brand fühlte sich plötzlich sehr unbehaglich. Warum war sie überhaupt hierher gekommen?
»Ich hatte ihr versprochen, dass ich bei der Suche helfen würde. Aber ich hatte die Sache vergessen«, sie lächelte entschuldigend, »Sie verstehen sicher, dass ich ihr etwas schuldig bin.«
Herr Zehnder atmete auf.
»Ja sicher. Ich weiß zwar nichts von der Schildkröte, aber ich rechne damit, dass Wilma morgen wieder hier sitzt.«
»Morgen erst?«, fragte Nore Brand, »geht das einfach so?«
Jetzt war es an Herrn Zehnder, sich unbehaglich zu fühlen. Er zupfte verlegen an seinem Ohrläppchen.
»Es ist unüblich, das schon. Aber die Eltern sind immer noch zuständig für ihre Kinder, nicht wahr?«
»Wissen Sie denn, aus welchem Grund Wilma bei der Großmutter ist? Gibt es familiäre Probleme?«
Es war doch die Pflicht einer Polizistin, neugierig zu sein.
Herr Zehnder wurde etwas
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