Nore Brand 03 - Racheläuten
ungeduldig.
»Nein. Das weiß ich nicht. Vielleicht hat sie so etwas gesagt. Aber es war lärmig im Lehrerzimmer.« Er lächelte entschuldigend. »Machen Sie sich nur keine Sorgen.«
Er nickte ihr zu und deutete an, dass er gern wieder unterrichten wolle.
Nore Brand ging durch den Korridor zurück zum Ausgang. Erst jetzt nahm sie diesen Schulhausgeruch wahr, diese unbeschreibliche Mischung aus körperlichen Ausdünstungen, Gummischuhen, feuchten Jacken, Putzmitteln und alten Büchern. Sie sah Kinderzeichnungen an den Wänden im Korridor. Dazwischen Kunstplakate.
Sie verließ das Schulhaus.
Es ging sie nichts an, wenn die Kinder ihres Quartiers bei ihren Großmüttern zu Besuch waren, anstatt in der Schule zu sitzen. Doch je länger sie darüber nachdachte, desto unbehaglicher wurde ihr beim Gedanken, dass Wilma nicht dort war, wo sie im Moment zu sein hatte, in ihrer Klasse nämlich, um mit den anderen Kindern über Rechenaufgaben zu brüten.
Die Mutter hatte eine Stunde, nachdem Nore Brand bei ihr gewesen war, angerufen, um zu erklären, warum ihre Tochter nicht in die Schule gekommen war.
Sie ging am Spielplatz vorbei. Eine Lokomotive aus Holz rottete vor sich hin. Die würde den kommenden Winter nicht überstehen.
Natürlich, auch in ihrem Quartier geschahen seltsame Dinge; sie schalt sich. Überall auf der Welt war das so, bloß hatte sie noch nie daran gedacht. Keiner wollte beängstigende Ereignisse oder kriminelle Handlungen vor der eigenen Haustür und schon gar nicht in den eigenen vier Wänden.
Wo fand man sonst noch seine Ruhe?
Also auch hier. Sie lebte seit Jahren hier, und doch war es möglich, dass sie im Grunde nichts wusste von ihrer nächsten Umgebung.
Sie verließ ihren Pfad. Auf dem Weg ins Stadtzentrum bog sie in Straßen, Sträßchen und Gassen ein, durch die sie nie zuvor gegangen war, von deren Existenz sie nicht einmal gewusst hatte.
Minuten später stellte sie erschüttert fest, wie viele Winkel und Ecken sie entdeckt hatte, die ihr völlig unbekannt gewesen waren. Doch das war gut; es musste genauso sein. Für das Vertraute ist man blind. Das Sensorium wird schläfrig in bekannter Umgebung.
Sie musste den Schalter kippen, um das Stadtquartier, in dem sie seit Jahren wohnte und lebte, wirklich zu sehen. Von nun an musste es mit jedem Schritt Neuland werden.
Sie ging weiter.
Sie sah die Mauern, die Grenzen zogen zwischen öffentlichem und privatem Raum. Sie waren gespalten von Nässe und Kälte. Aus den Rissen wuchsen Gräser und Unkraut. Aus Rissen wurden Spalten, und daraus würden Sträucher wachsen und Bäume, und mit der Zeit, wenn man die Natur gewähren ließ, würden wieder Wälder auf diesem Boden stehen und – Nore Brand ließ ihrer Vorstellungskraft freien Lauf, es erfrischte ihren Blick – die richtigen Bären würden zurückkommen und hier leben. Der Tag würde kommen, an dem die Sandsteinbauten sich in Form von Sanddünen um die Ruinen aus Beton, Stahl und Glas legen würden. Ein Bild von grosser Einsamkeit drängte sich ihr auf. Sie fuhr sich rasch über die Augen. Das alles würde noch eine Weile auf sich warten lassen.
Doch das Leben wurde auf einen Schlag leichter, wenn man sich die Welt mit ihrer ganzen Vergänglichkeit vorstellte.
Und es öffnete die Sinne.
Nore Brand setzte sich langsam in Bewegung und blieb hin und wieder stehen. Sie staunte. So viel Moos auf den Mauern. Die Natur kam leise zurück. Sie bereitete sich möglicherweise auf andere Zeiten vor als die Menschen. Die alten Mietshäuser wurden renoviert, man baute robustere Fenster ein, und die Fassaden wurden isoliert.
Die Menschen hier bereiteten sich auf kältere Zeiten vor.
So ging sie durch das Quartier, schaute, was sich hinter ihren Alltagspfaden verbarg. Sie fühlte, wie sie sich Schritt für Schritt bereit machte für die seltsame Aufgabe, die ihr bevorstand. Die Bastian Bärfuss ihr mit größtem Widerwillen übertragen hatte.
Vor der Universität, am Rand der Länggasse, sah sie in der dunstigen Ferne die Alpenkette. Sie setzte sich auf eine freie Bank an der Sonne.
Zwei uniformierte Altstudenten schlenderten unter den Bäumen. Sie schienen etwas Schönes vorzuhaben. Der dickere der beiden trug eine Mütze mit einem Fuchsschwanz; dieser bewegte sich wild im Herbstwind als Zeichen der Leidenschaft des Trägers.
Auch sie war wieder auf der Jagd. Der Gedanke daran verursachte ihr grosses körperliches Unbehagen. So begann es immer.
Ihr Blick ging nach Nordwesten, zwischen
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