Nore Brand 03 - Racheläuten
die Jacques vor langer Zeit mit ihrem teuren Lippenstift auf den Spiegel gemalt hatte. Sie hatte sie nie weggewischt. Und er hatte immer kontrolliert, ob die Worte noch zu entziffern waren. Wer die Worte kannte, konnte sie auch entziffern. Einige Buchstaben hatten sich aufgelöst, waren abgebröckelt. Oder wie musste man beschreiben, was mit dem Lippenstift auf einem Spiegel geschah nach so langer Zeit?
Nore Brand streckte ihr Gesicht ganz nah zum Spiegel. Sie dachte an die vergangene Nacht. Siebeneinhalb Minuten Leidenschaft.
Schön, aber stellt man dafür sein Leben auf den Kopf?
Der Lippenstift war längst aufgebraucht und sie hatte nie daran gedacht, einen neuen zu kaufen.
Sie verließ ihre Wohnung früher als sonst. Unterwegs rief sie Nino an. Sie bat ihn, direkt zum Bärengraben zu kommen.
»Was sollen wir dort? Sollten wir nicht auf der Stelle Max Lebeau verhaften? Warum hast du nicht auf meinen Zettel reagiert?« Nino war beleidigt.
Sie entschuldigte sich; sie hatte seine Nachricht vor lauter Privatleben tatsächlich vergessen. »Aber der läuft uns nicht davon.«
Es regnete. Die warme Sahara-Luft war einem Tief aus Westen gewichen. Nino Zoppa hatte offenbar keine Lust auf frische Luft.
»Ich möchte mit dir an Ort und Stelle den Mord rekonstruieren. Aber wir können das auch heute Abend machen.«
»Heute Abend? Nein!«, rief er erschrocken. »Ich bin um neun dort!«
»Ausserdem will ich wissen, was dich so sicher macht, dass Lebeau der Mörder ist.«
»Aber gern!«, rief er, »du wirst staunen!«
Nore Brand beschloss, zu Fuß zu gehen. Bei Adriano’s machte sie kurz halt.
Fünf Minuten später schlug sie einen großen Bogen um die Touristen, die sich beim Zytglogge-Turm mit ihren Kameras in Stellung gebracht hatten.
Als sie vorbeiging, hörte sie den ersten Schrei des Hahns. Sie drehte sich um und schaute dem Figurenspiel zu. Der Bärenreigen. Der Narr kündigt die volle Stunde an.
Sie brauchte nicht zu warten. Sie wusste, wie es weiterging. Die Menschen schauten mit Kindergesichtern zum Turm hinauf.
Chronos dreht die Sanduhr, schwingt das Zepter, und die Stunde darf geschlagen werden. Dann kommt Hans von Thann, und Chronos zählt acht Schläge. Auch der Löwe zählt mit, und beim dritten Schrei des Hahns beginnt die neue Stunde.
Beim dritten Schrei des Hahns.
Die Touristen applaudierten, und mitten in der Begeisterung fielen die Kindergesichter ab, man schaute etwas verlegen um sich und eilte zur nächsten Attraktion.
Kurz vor neun würde es wieder losgehen. Tagaus, tagein. Über Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte.
Unter den Lauben herrschte Gedränge, und auf der Gasse waren die Lieferanten unterwegs. Nore Brand bewegte sich durch die Stadt, als ob sie nicht Teil dieses Alltagstreibens wäre. Nein, das war sie nicht, denn sie war unterwegs, um zu beobachten. Sie stand am Rand dieses Treibens und versuchte, in die Vergangenheit zu schauen.
Auf der Nydeggbrücke schlug sie die Kapuze hoch und verlangsamte ihren Schritt. Ihr Blick ging vom gegenüberliegenden Hang zum Fluss hinunter. Diese ewigen Jogger. Kein Regen, kein Nebel oder Schneetreiben hielt sie von ihrem Bewegungsdrang ab.
Sie suchte den Bärenpark ab. Die Bärenfamilie war nicht da. Es gab wenig Grund an diesem regnerischen Septembertag, die Höhle zu verlassen. Wenn man ein Bär war.
Sie ging zum Bärengraben. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es gewesen war an jenem Abend, im ersten dicken Herbstnebel. Sie erinnerte sich, was Bruder Klaus berichtet hatte.
Sie hörte ihn fluchen, weil er bremsen musste auf seiner Fahrt den Klösterlistutz hinunter in die Altenbergstrasse. Es brauchte viel, dass einer wie Bruder Klaus wütend wurde.
Sie lehnte sich über die Mauer und schaute in den Graben hinunter. Da unten hatte man Federico Meier gefunden.
Eine frühe Touristin aus Tokio war die Erste, die ihn gesehen hatte. Zuerst dachte man an einen seltsamen Witz, dann alarmierte ein tschechischer Buschauffeur die Polizei. Es dauerte eine Weile, bis der Mann am Telefon verstand, was man ihm sagen wollte.
In der Zwischenzeit wurde der arme Kerl im Graben gefilmt. Ein grusliger Gedanke, dass man ihn für eine touristische Attraktion gehalten hatte.
Die Bilder waren um die Welt gegangen.
Sie schüttelte den Kopf beim Gedanken, dass einer auf diese Weise berühmt geworden war. Für ein paar Sekunden.
»Hallo, Nore!«
Sie zuckte zusammen. Nino stand neben ihr.
»Morgen«, sagte sie, »entschuldige, aber ich habe mir eben
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