Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Deutschland: Einen Höhepunkt der wissenschaftlichen Forschung bildete zweifellos Emil Kraepelins maßgebende Unterscheidung zwischen Schizophrenie und bipolarer affektiver Störung, die er »manisch-depressives Irresein« nannte. Es war ein glücklicher Zufall, dass Kraepelins Bruder Karl Biologe und großer Naturforscher war; der Austausch mit dem Bruder schärfte seine beträchtliche Beobachtungsgabe und zwang ihn darüber hinaus, die knappe Kasse aufzubessern, mit der die beiden ihre häufigen gemeinsamen Forschungsreisen nach Ostasien finanzierten: Kraepelins Nebentätigkeiten veränderten die Geschichte der Psychiatrie. Das Inhaltsverzeichnis seines bemerkenswert populären und einflussreichen Lehrbuchs wurde das DSM seiner Zeit und bildete später die Grundlage für unsere Diagnosehandbücher. Einen blinden Fleck hatte Kraepelin allerdings – er war reiner Krankenhausarzt und kam nie mit ambulanten Patienten in Berührung; das heißt, seine Auffassung von Psychiatrie war von jenen geprägt – und damit zwangsläufig begrenzt –, die so krank waren, dass sie eine ausgedehnte stationäre Behandlung brauchten; in seiner Systematik fehlen die Nischen, in denen heute die meisten Patienten mit psychiatrischer Diagnose einzuordnen sind.
Ein weiterer glücklicher Zufall wollte es, dass Sigmund Freud, sein Zeitgenosse, diese Lücke schloss. Freud wird ja meist nicht mit Diagnostik, sondern mit Therapie in Verbindung gebracht, aber zu Unrecht: Er hat für die Klassifizierung der Beschwerden ambulanter Patienten ebenso viel geleistet wie Kraepelin in Bezug auf die stationären Kranken. Interessanterweise verlegte sich auch Freud nur aus einem finanziellen Engpass heraus auf die Klassifikation; in seinem Fall war es der Wunsch, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Zu Beginn seiner Laufbahn war Freud ein vielversprechender Neurophysiologe, einer der Pioniere auf dem Gebiet der Gehirnanatomie, der früh die Bedeutung der neuronalen Synapsen, der Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen, für die Gehirnfunktion erkannte. Aber weil ihm der Zugang zu einem Lehrstuhl an der Universität verwehrt blieb, musste er sich wohl oder übel mit der weitaus weniger angesehenen neurologischen Privatpraxis zufriedengeben. Diesen Karriereknick nahm Freud nur widerstrebend und mit Bedauern hin, und nie verabschiedete er sich von seinem ursprünglichen Streben nach Anerkennung als Wissenschaftler. Er fand aber eine Alternative: Er verschob den Schauplatz seiner Forschung vom Mikroskop auf den Menschen und war bald der Darwin der ärztlichen Praxis, der dank scharfsinniger klinischer Beobachtung zu verblüffend akkuraten Schlussfolgerungen darüber gelangte, welch entscheidende Rolle unbewusste, angeborene Triebe bei der Ausprägung der Persönlichkeit, der Art des Denkens und Fühlens und bei Lebensentscheidungen spielen – gleichgültig, ob wir krank oder gesund sind. Die moderne kognitive Wissenschaft und die in der Gehirnforschung eingesetzten bildgebenden Verfahren haben Freuds fundamentalen Erkenntnisse überzeugend bestätigt – auch wenn uns aus heutiger Sicht manch andere Annahmen Freuds recht verschroben erscheinen.
Das tut hier aber nichts zur Sache. Uns interessiert vielmehr, dass Freud auch den ganz neuen Beruf des Psychotherapeuten und Psychiaters für ambulante Patienten einführte und überdies eine Klassifizierung der Patienten in dieser neuen Praxis ermöglichte. Die Erscheinungsbilder der leichteren Erkrankungen, mit denen die Patienten zu ihm kamen und die heute das tägliche Brot der Psychiatrie sind, fielen damals in die Zuständigkeit der Neurologen oder Nervenärzte, die diese in der Überzeugung, sie würden durch Nervenerkrankungen verursacht, »Neurosen« genannt hatten. Freud formulierte, während er das vollkommen neue Gebiet der Psychoanalyse entwickelte, den Begriff der Neurose neu und definierte ihn als das Ergebnis eines psychischen Konflikts – zwar bedingt durch die Biologie des Gehirns, aber nicht einfach eine Gehirnerkrankung. Dann machte er sich daran, Neurosen zu klassifizieren, unterschied Trauer von Schwermut, Panik von Phobien und generalisierter Angst und beschrieb Zwangsstörungen, die sexuellen Störungen, die Persönlichkeitsstörungen. Von seiner Ausbildung her war Freud Neurologe und hatte nur ein paar Monate lang die Psychiatrie studiert: Was für eine Ironie des Schicksals, dass er von den Neurologen weitgehend ignoriert, von den Psychiatern aber bald auf Knien angebetet
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