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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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    Die frühen Psychiater waren wenige an der Zahl, arbeiteten ausschließlich in Nervenheilanstalten und trugen die unselige Berufsbezeichnung »Irrenärzte«. Mit Freud änderte sich das alles, und es änderte sich rasch. Das Fachgebiet der Psychiatrie verschob sein Hauptaugenmerk von den sehr kranken Klinikinsassen auf die weniger kranken ambulanten Patienten, und die Psychiater verließen in Scharen die Irrenanstalten, um eigene Praxen zu eröffnen; 1917 praktizierten nur 10   Prozent der Psychiater außerhalb eines Krankenhauses, jetzt sind es nahezu alle. 17 In den USA schwoll die Zahl der Psychoanalytiker zusätzlich an: einerseits durch prominente Flüchtlinge aus NS -Deutschland und andererseits durch die Kliniker, die aus den florierenden neuen Berufen der Psychologen und Sozialarbeiter herkamen. Eine rasch wachsende Gruppe von Therapeuten behandelte unter Zugrundelegung der aus der Psychoanalyse an ambulanten Patienten gewonnenen neuen Diagnosen eine noch viel größere, aber auch viel weniger kranke ambulante Patientenschaft.
    Gleichzeitig erweiterten die beiden Weltkriege die Grenzen der Psychiatrie und führten sie in die Gesellschaft ein. Psychiatrische Krankheiten galten als Gefahr für die nationale Kriegsanstrengung, denn sie waren häufig ein Grund für Dienstuntauglichkeit, eine verbreitete Form von Kriegstraumatisierung und Ursache nachhaltiger Behinderung bei den Heimkehrern. Bestehende Klassifizierungen, die für schwer kranke, stationär untergebrachte Patienten erarbeitet worden waren, erfüllten nicht mehr die Anforderungen und reichten nicht aus, um die Leiden von Kriegsveteranen zu diagnostizieren. Landesweit wurden zahlreiche Psychiater aufgerufen, das System zu verfeinern und nach Wegen zu suchen, um die US- Soldaten einsatzbereit zu erhalten. Viele brachten es zu hohen militärischen Ehren (einer wurde General) und hatten außerordentlichen Einfluss auf Entscheidungen über Rekrutierung, Haft und Militärmedizin. 18 Die US- Armee entwickelte eine neue, erweiterte Klassifikation, die dann ein erstes Mal von Veteranenverbänden und ein weiteres Mal von der American Psychiatric Association überarbeitet und schließlich 1952 als Diagnostic and Statistical Manual I veröffentlicht wurde.
    DMS-III rettet die Psychiatrie
    Nach dem zweiten Weltkrieg blühte die Psychiatrie auf – nachdem sie in Kriegszeiten ihre Tauglichkeit unter Beweis gestellt hatte, erwarb sie sich eine neue, prominente Stellung im zivilen Leben. Erstmals wurden an allen medizinischen Fakultäten Lehrstühle für Psychiatrie geschaffen und neue Psychiatrieabteilungen an den meisten allgemeinen Krankenhäusern eingerichtet. Das maßgebliche Modell war das psychoanalytische, der Schwerpunkt lag auf der Behandlung, und die Haltung innerhalb des Berufsstandes war unerschütterliches Selbstvertrauen. Die psychiatrische Diagnostik erlebte unterdessen durchaus keine Renaissance, sondern führte ein stilles Schattendasein, an dem die ganze Aufregung spurlos vorüberging. DSM-I (veröffentlicht 1952) 19 und DSM-II (veröffentlicht 1968) 20 blieben ungelesen, ungeliebt und ungenutzt.
    Anfang der Siebzigerjahre aber trat eine Wende ein, und die Diagnostik wurde als die Achillesferse entlarvt, die womöglich die ganze Psychiatrie zu Fall bringen konnte. Zwei Artikel, die nicht nur in Fachkreisen Beachtung fanden, stellten eine existenzielle Bedrohung für ihre erst jüngst erworbene Qualifikation als eigenständiges medizinisches Fachgebiet dar. Der erste Schock: Eine zwischenstaatliche britisch-amerikanische Studie ergab, dass Psychiater zu beiden Seiten des Teichs in ihren diagnostischen Schlüssen radikal voneinander abwichen, sogar bei der Diagnostizierung ein und desselben Patienten als Videoaufzeichnung. 21 Der zweite Schock: Ein schlauer Psychologe bewies, wie mühelos Psychiater nicht nur zu unzutreffenden Diagnosen, sondern zu völlig unangemessenen Therapien zu verleiten waren. Etliche seiner Studenten begaben sich in die Notaufnahme diverser Krankenhäuser und behaupteten, sie hörten Stimmen. Prompt wurden sie alle in die Psychiatrie verfrachtet und, obwohl sie sich fortan vollkommen normal verhielten, mindestens einen Monat dort behalten. Nach diesem Experiment standen die Psychiater als unzuverlässige, antiquierte Scharlatane da, die unfähig waren, sich der zur selben Zeit alle anderen Bereiche der Medizin erfassenden Forschungs- und Modernisierungswelle anzuschließen.
    Ohne Robert Spitzer wäre die Psychiatrie

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