Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
miterlebte, kam sich eher vor wie der Zuschauer bei einer Vorführung von Virtuosen – wissenschaftliches Debattieren und Abwägen war das nicht. Die Sitzungen folgten alle einem bemerkenswert gleichen Muster: Acht bis zehn Experten wurden buchstäblich in einem Zimmer eingesperrt und durften nicht eher wieder heraus, als bis sie zu einer Einigung gelangt waren. Vormittags ging es immer laut und wild zu, denn die Experten warfen sich gegenseitig die ihrer Meinung nach besten Symptome an den Kopf und stritten miteinander, oft schreiend. Ihre vehement vertretenen Ansichten wurden mit der ungestümen Entschlossenheit vorgetragen, die weniger von wissenschaftlichen Fakten als von gelebter Erfahrung herrührt; mit vernünftigen Argumenten einen gemeinsamen Nenner zu finden war offenbar unmöglich. Bob saß unterdessen meistens schweigend in einer Ecke und tippte rasend schnell, um möglichst alles festzuhalten. Nach ein paar anarchischen Stunden kam ein von Köstlichkeiten überbordendes Tablett, und während die Experten sich über Sandwiches, Krautsalat, Essiggurken und Limonade hermachten, kehrte endlich Ruhe ein. Nur Bob tippte rabiat weiter, vollkommen konzentriert, sichtlich blind und taub für seine Umgebung und das Essen, und wenn alles verspeist war, hatte Bob wundersamerweise aus dem Vormittagschaos eine Reihe von Kriterien herausgeschält und die so krass unterschiedlichen Vorschläge sauber zu einer kohärenten Definition komprimiert. Nachmittags, wenn die schläfrig gewordenen Experten Bobs Kompromissergebnis den Feinschliff verpassten, ging es dann meist viel ruhiger zu. Herrschte im einen oder anderen Punkt noch immer Uneinigkeit, setzte sich derjenige durch, der am lautesten, selbstbewusstesten, hartnäckigsten auftrat, der Dienstälteste war oder als Letzter mit Bob gesprochen hatte – eine denkbar schlechte Methode, um ein diagnostisches System zu erarbeiten, denn auf diese Weise gelangen zwangsläufig alle möglichen Verzerrungen und Voreingenommenheiten hinein, aber zum damaligen Zeitpunkt ging es eben nicht besser. Das Wunder ist eigentlich, dass es sich in der Praxis tatsächlich gut bewährte. Das Endprodukt war selbstverständlich fehlerbehaftet, aber es war auch bemerkenswert nützlich.
Bobs Kollegen, die mit ihm die Kriterienkataloge erarbeiteten, waren in der Mehrheit die »Jungtürken« der Psychiatrie (und ein paar Psychologen), die aufstrebenden, fest zusammenhaltenden Jahrgänge biologisch orientierter Forscher, die sich als Speerspitze sahen und das Ziel hatten, die Fachdisziplin von den bis dato dominanten psychoanalytischen und sozialtherapeutischen Modellen abzukoppeln und enger an die übrige Medizin anzuschließen. Das DSM-III wurde als atheoretisch in Bezug auf die Ätiologie (also die Entstehungsgeschichte von Krankheiten) und als gleichermaßen anwendbar auf die biologischen, psychologischen und sozialtherapeutischen Modelle angekündigt. Auf dem Papier war das richtig, in der Praxis nicht. Richtig war es insofern, als die Kriterienkataloge auf Oberflächensymptomen beruhten und nichts über Ursachen und Therapien sagten. Aber die Beschränkung auf die Oberflächensymptome passte exakt zu einem biologischen, medizinischen Modell von psychischer Störung, das auf diese Weise unangefochten in den Vordergrund gerückt wurde. Dass dabei die eher inferentiellen psychologischen Konstrukte und das soziale Umfeld nicht berücksichtigt wurden, wirkte sich stark zum Nachteil der anderen Modelle aus und steckte die Psychiatrie sozusagen in eine reduktionistische Zwangsjacke. Das DSM-III versuchte diese Schwäche durch Einführung eines innovativen »Vielachsensystems« wieder wettzumachen, das heißt, die Patienten wurden nicht nur nach Achse 1 (klinische Störungen und andere klinisch relevante Probleme), sondern auch nach Achse 2 (Persönlichkeitsstörungen), Achse 3 (medizinische Krankheitsfaktoren) und Achse 4 (psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme) begutachtet. Eine Zeit lang setzte sich Bob für ein »Hundert-Blumen«-Projekt ein, mit dem er auch alle Faktoren jenseits der rein beschreibenden Diagnose aufspüren wollte, die in eine vollständige Begutachtung einfließen sollten, aber dazu kam es nie. Die Verfechter von psychologischen oder sozialtherapeutischen Modellen fühlten sich ausgegrenzt und haben tatsächlich seit der Veröffentlichung des DSM-III stetig an Ansehen und Einfluss verloren.
Revolutionen sind nie einfach und nie vollständig. Bob war eine unwiderstehliche
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