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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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in den USA in der Bedeutungslosigkeit versunken, in der sie vor dem Krieg gesteckt hatte. Es kommt selten vor, dass ein einziger Mann einen ganzen Berufsstand rettet, aber die Psychiatrie bedurfte dringend der Rettung, und Bob ist ein Mann, wie er selten vorkommt. Schon damals, als junger Forscher an der Columbia University, hatte er sich das Ziel gesetzt, das für ihn zur lebenslangen Mission werden sollte: die psychiatrische Diagnose systematisch und verlässlich zu machen. Stellen Sie ihn sich vor wie Ahab auf der gnadenlosen Jagd nach Moby Dick.
    Bob war einer der Pioniere gewesen, die die Checklisten für die Research Diagnostic Criteria aufstellten: eine Methode, Symptome anhand von bestimmten Kriterien bestimmten psychischen Störungen zuzuordnen, um auf diese Weise die diagnostische Übereinstimmung der an Studien teilnehmenden Begutachter zu erhöhen. 22 Ferner hatte er, um die Subjektivität bei der Begutachtung in Grenzen zu halten, halb standardisierte Strukturen für die Anamnesegespräche entwickelt und schlug vor, bei den Fragen, mit denen das Vorliegen oder Fehlen jedes Symptoms ermittelt wird, immer dieselbe Reihenfolge und denselben Wortlaut beizubehalten. 23 Erste Ergebnisse, die mit Bobs Methoden erzielt wurden, waren ermutigend: Wenn die Begutachter dieselben Fragen stellten und sich auf dem Weg von der Symptomerfassung bis zur Diagnose an dieselben Regeln hielten, gelangten sie zu ziemlich hoher Übereinstimmung. Damit waren erste Konsequenzen aus der zwischenstaatlichen Studie gezogen. Noch wichtiger aber war, dass ein verlässliches diagnostisches System der psychiatrischen Forschung die Möglichkeit eröffnete, die fantastischen neuen Hilfsmittel der Molekularbiologie, der Genetik, der Bildgebung, der multivariaten Statistik und der placebokontrollierten klinischen Studien zu nutzen. Auf einmal war die Forschung nicht mehr das Stiefkind der Psychiatrie, sondern avancierte zum Liebling medizinischer Forschung. Das Budget des National Institute of Mental Health ( NIMH ), des US- Forschungszentrums für psychische Störungen, wuchs rasant, und an den meisten medizinischen Fakultäten wurde die Psychiatrie zur zweitgrößten Empfängerin von Forschungsgeldern und stand damit direkt hinter der Inneren Medizin und weit vor allen sonstigen wissenschaftlichen und klinischen Abteilungen. Auch die Pharmaunternehmen begannen im Wettrennen um profitable neue Psychopharmaka enorme Summen in die Forschung zu investieren.
    Spitzer hatte das Fundament für die psychiatrische Forschung gelegt. Andere hätten sich damit zufriedengegeben, aber Bob, der rastlose Geist, erkannte bald, dass es noch weitaus Wichtigeres zu tun gab. Warum die kriteriengestützte Diagnostik nicht auch in der täglichen klinischen Praxis anwenden, wenn sie sich in Forschungsstudien so gut bewährte? Die Idee war ungeheuer ambitioniert und gewagt, aber die American Psychiatric Association bot Bob tatsächlich die perfekte Gelegenheit, sie umzusetzen. 1975 wurde er gebeten, den Vorsitz der Kommission zur Erstellung der dritten Ausgabe des DSM zu übernehmen, und erhielt mehr oder weniger freie Hand, sich seine Ziele zu setzen, Methoden auszuwählen, sich Mitarbeiter zu suchen. Spitzer ist ein tatkräftiger, entschlossener, hartnäckiger, unbeugsamer Mann und glaubt so enthusiastisch wie unerschütterlich an das, was er tut. Sein Ziel war damals nichts Geringeres als die Umgestaltung der Psychiatrie, wie sie überall auf der Welt und in allen Fachbereichen praktiziert wurde. Wie Bob selbst damals sagte: »Sie warfen mir den Ball zu, und ich rannte los.« Das DSM-III 24 wollte mit der diagnostischen Anarchie aufräumen, das Hauptaugenmerk auf die sorgfältige Diagnostizierung als unverzichtbare Voraussetzung für spezifischere und präzisere Therapieentscheidungen richten und die lang ersehnte Brücke zwischen klinischer Forschung und klinischer Psychiatrie schlagen. 25
    Eine große Hürde stand der Erstellung des DSM-III allerdings im Weg: Damals lagen nur sehr wenige wissenschaftliche Nachweise vor, mit denen sich die Entscheidungen – etwa darüber, welche Störungen in den Katalog aufgenommen und welche Symptome zu jeder Störung jeweils angeführt werden sollten – begründen ließen. Die riesigen Lücken füllte Bob, indem er auf jede Störung eine kleine Expertengruppe ansetzte und sie zwang, sich so lange den Kopf zu zerbrechen, bis sie den besten Kriterienkatalog beisammenhatten.
    Der Vorgang war kein schöner Anblick. Wer ihn

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