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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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Mania geschoben, die, passenderweise wie die griechische »Raserei« ( mania ) benannt, als brachiale, dämonische Urgestalt die Menschen in den Wahnsinn trieb. Später mischten auch die bekannten olympischen Götter und, häufiger, Göttinnen mit, unter denen die eifersüchtige Hera wahrscheinlich die meisten Opfer verzeichnete.
    Warum brachten ausgerechnet die Göttinnen so viele Menschen um den Verstand? Die Stellung der Frau hatte, als die Menschen sesshaft wurden und das Jagen und Sammeln dem Ackerbau und der Viehzucht wichen, einen herben Schlag einstecken müssen. Die neuen Machtbeziehungen unter Grundbesitzern stellten die Patriarchen und ihre männlichen Gottheiten weit über die weibliche Hälfte der Bevölkerung, die Frauen fanden sich zu besserem Hausrat degradiert, und für die gefürchteten Kräfte, die im Zuge der männlichen Machtübernahme unterdrückt worden waren, standen nun die rachelüsternen Göttinnen. Göttlicher Zorn war eine unwiderlegliche Ausrede für enthemmtes Verhalten (meist männlicherseits). Wahnsinn war eine Strafe, aber auch ein willkommener Abladeplatz für Verantwortung, und die Diagnose erklärte abweichendes Verhalten nicht nur, sondern entschuldigte es auch. Der mörderische Wahn, der den Herakles befiel, sodass er seine Gattin nebst den drei Kindern abschlachtete, war Heras Strafe für seinen Hochmut und seine Unbotmäßigkeit, und als Ajax die Schafherde des Odysseus tötete, hatte natürlich Athene seinen eifersüchtigen Zorn auf das Vieh seines Widersachers umgelenkt.
    Auch besondere Begabungen standen in enger Verbindung mit dem Wahnsinn – göttliche Eingebungen haben eben ihren Preis. Kassandra und die Priesterin von Delphi konnten in die Zukunft blicken, aber in der Gegenwart mussten sie wahnsinnig sein. Der Dichter konnte nicht hoffen, ohne den Wahnsinn der Musen an die Pforten der Dichtung zu gelangen, und der Dionysoskult brachte den Rausch ins Spiel. Wein, Sex und religiöse Raserei waren ein Weg zu willkürlichem Wahnsinn, der den Menschen in »göttlicher Entrückung des Geistes« vorübergehend der Normalität des Alltags entriss und ihn den Göttern näher brachte. Wahnsinn wurde gelegentlich auch simuliert: Odysseus täuschte ihn vor, um nicht in den Trojanischen Krieg ziehen zu müssen – leider erfolglos, denn seine List wurde durchschaut; König David hingegen rettete damit sein Leben.
    Die Götter waren eifersüchtig und launisch und ungerecht, denn sie ergriffen stets für ihre Lieblinge Partei. Die Regeln waren unklar und unfair. Man brauchte einen Priester, um zu lernen, wie man sich die Götter gewogen hielt und nicht aus göttlichem Zorn mit Wahnsinn gestraft wurde. Der Priester übte die ihm von heiligem Glauben, Gebeten, magischen Ritualen und nicht zuletzt einem prunkvollen Tempel verliehene Autorität aus. Im 8. vorchristlichen Jahrhundert (zur selben Zeit, als Homer seine trojanischen Gesänge verfasste) wurde der erste ärztliche Tempel dem Kult des Asklepios geweiht, dem Gott der Heilkunst. Man erkannte ihn an seinem typischen Stab, um den sich eine Natter windet; der Asklepiosstab ist noch heute das Symbol der Medizin. Dank ihrer Fähigkeit, sich zu häuten, war die Schlange das ideale Symbol für Heilung und Unsterblichkeit; auf dem Tempelgelände durften sich harmlose Schlangen in großer Zahl frei bewegen, und der Heilkult florierte. Bald wurden überall im alten Griechenland Kultstätten für Asklepios eingerichtet, gern in abgelegenen, landschaftlich reizvollen Gegenden mit heiliger Quelle in der Nähe oder Bergblick oder beidem. Tausend Jahre lang war der Asklepioskult überaus populär und bemerkenswert wirkungsvoll. Die Römer übernahmen ihn und errichteten auch in ihrem Reich Tempel der Heilkunst. Die »Asklepieia«, wie man die Heiligtümer mit angeschlossenem Sanatorium nannte, erfüllten vielfältige Aufgaben, sie waren Tempel, Krankenhaus, Hotel, Kurbad, Erholungsort, Vergnügungsstätte und Ärzteschule – eine Kombination aus Lourdes, Mayo-Klinik und Ritz-Carlton. Der Besuch eines Tempels setzte eine langwierige, mühselige Wallfahrt voraus, was ein psychisch oder physisch Schwerkranker niemals leisten konnte; es ist daher anzunehmen, dass in den Tempeln eine Population von Patienten behandelt wurde, die sich mit einer Kombination leichter physischer und psychischer Symptome vorstellten, wahrscheinlich nicht sehr verschieden von vielen Patienten heutiger Hausarztpraxen. Mit ihrer langen Wanderschaft hatten die Pilger

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