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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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umfassendere klinische Erfahrung, erforschte derart unterschiedliche Krankheiten, erfand mehr Therapien, verfasste so viele Schriften. 7 War er nicht als Sport- und Wundarzt für einen Stall Gladiatoren, mit der Erfindung der Staroperation oder Eingriffen am Gehirn beschäftigt, die ihm bis in die Neuzeit hinein niemand nachmachte, erweiterte Galen die Temperamentenlehre, die auf die hippokratische Humoralpathologie zurückgeht; damit definierte er die menschliche Persönlichkeit und ihre Bedeutung für Krankheit. Die vier Säfte erklärten ihm nicht nur, worunter wir leiden, sondern auch, wer wir sind. Unser Schicksal, so die Lehre, ist nicht von den Sternen oder den Dämonen oder den Göttern bestimmt, sondern beruht auf dem Verhältnis der Säfte zueinander, der Ausgewogenheit der Körperchemie. Das biologische Modell der Temperamente und ihrer Auswirkungen auf das Verhalten unterscheidet sich nicht sehr von den modernen Theorien – nur irrte er bei den Säften.
    Die alten Griechen liebten die Zahl vier. Sie hatten vier Planeten, teilten das Jahr in vier Jahreszeiten, das Leben in vier Phasen und die Natur in vier Elemente (Luft, Feuer, Erde, Wasser), die in unterschiedlichen Kombinationen die Beschaffenheit der Welt und die Biologie von Leib und Seele bestimmen. Und sie konstatierten eben auch die erwähnten vier Säfte, Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, deren jeder einem Element zugeordnet ist. Schon Hippokrates hatte festgestellt, dass Ausgewogenheit der Säfte Gesundheit bedeutet und ein gestörtes Gleichgewicht Krankheit hervorbringt; Galen ordnete den Säften nun verschiedene Temperamente zu und kam zu dem Schluss, dass auch die Persönlichkeit durch eine Unausgewogenheit bedingt ist: Ein Überschuss an Blut erzeugt den Sanguiniker, zu viel gelbe Galle den Choleriker, zu viel schwarze Galle den Melancholiker und zu viel Schleim (griech. phlegma , »Hitze, Entzündung, Schleim«) den Phlegmatiker. Ein harmonisches Verhältnis führt zu einem ausgewogenen Seelenzustand. Natürlich gibt es alle möglichen Kombinationen von Mischungen, die das breite Spektrum menschlicher Verhaltensweisen und Charakterzüge erklärten und veranschaulichten. Aus heutiger Sicht klingt das nach Quacksalberei, aber die Galensche Humoralpathologie hat die Medizin mehr als fünfzehnhundert Jahre beherrscht. Zum Vergleich: Die Halbwertszeit vieler gegenwärtiger Theorien misst sich in Jahrzehnten, nicht in Jahrhunderten.
    Unter Temperament verstand Galen nicht nur die Verhaltensaspekte, wie sie für eine bestimmte Persönlichkeit typisch sind, sondern auch deren körperliche Manifestation. Nach seiner Lehre standen Körper und Geist miteinander in Wechselwirkung, und daher bildeten die jeweilige Persönlichkeit und ihr Gesundheitszustand eine unauflösliche Einheit. Man konnte vorhersagen, wie sich ein Mensch mit einer bestimmten Temperamentsmischung verhielt, aber ebenso gut konnte man vorhersagen, welche Krankheiten er wahrscheinlich bekäme und welche Therapien dann anschlügen. Krankheiten mochten kommen und gehen, das Temperament aber war angeboren und weitgehend stabil. Es konnte mit geeigneten Eingriffen – bestimmten Ernährungsweisen, Aktivität, Kräutern, Aderlass, Schröpfen und Klistieren – beeinflusst und ins Gleichgewicht gebracht werden, doch angesichts der vielfältigen Kombinationen von Mängeln musste die Behandlung genau auf das Individuum abgestimmt sein.
    Galen war sich bewusst, dass Funktionsstörungen des Gehirns und Krankheiten des Geistes zahlreiche innere und äußere Ursachen haben konnten, die nicht allein mit einer Unausgewogenheit der Säfte zu tun hatten. Zum Beispiel konnte Wein den Menschen in den Wahnsinn treiben. Aus seiner Erfahrung mit den Gladiatoren wusste er, wie sich Schädeltraumata äußern, und was ein Gehirnfieber bewirkt, war nicht zu übersehen. Er erkannte auch, dass geistige Zurückgebliebenheit durch eine angeborene Störung der Gehirnfunktion bedingt sein kann, und wusste – wie es heute gängige Praxis ist –, dass vor der Diagnostizierung einer Persönlichkeitsstörung die Möglichkeit ausgeschlossen werden muss, es könnte eine körperliche Krankheit oder ein Rauschmittel für das Verhalten der betreffenden Person verantwortlich sein. Erst wenn es keine klare Ursache gab, befasste er sich mit dem Verhältnis der Körpersäfte und Temperamente als ausschlaggebendem Krankheitsfaktor.
    Die Behandlung einer Dyskrasie, also eines gestörten Gleichgewichts, war eine

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