Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
keineswegs aus, aber als Faustregel können wir sagen: Je besser die Beziehung, desto besser das Ergebnis. Und eine richtige Diagnose ist womöglich die beste Voraussetzung für eine solide therapeutische Beziehung.
EPILOG
Gott muss eine maßlose Vorliebe für Käfer haben,
weil er so viele verschiedene Arten erschaffen hat.
J. B. S. Haldane
Höchstwahrscheinlich werden die Käfer dereinst unseren Planeten erben. Sehen Sie sich einfach nur die Bilanz an – mehrere Hunderttausend äußerst diversifizierte Käferspezies gegenüber nur noch einer einzigen, zunehmend homogenisierten menschlichen Spezies. Der kluge Investor setzt auf die Käfer – und sonstige Insekten – als die Überlebenden unseres jungen Jahrtausends.
Die Natur hat billionen- und trillionenmal gewürfelt und dabei gelernt, dass größtmögliche Artenvielfalt sich langfristig am besten bewährt. Auf einem Morgen Regenwald leben Hunderte verschiedener Spezies mit äußerst unterschiedlichem Erbmaterial. Die ungezählten Bäume, die im Kampf um einen Sonnenplatz im Blätterdach aufwärts streben, erscheinen dem ungeübten Blick alle gleich. Viel weniger kompliziert wäre es gewesen, hätte sich der Wald auf eine einzige Spezies beschränkt, aber die Natur war immer wieder bereit, einen hohen Preis zu zahlen, um sich alle Optionen offenzuhalten. Man kann nie wissen, was des Weges kommt und welches genetische Potenzial am meisten benötigt wird, um die nächste Herausforderung der Umwelt zu bestehen.
Die Natur schaut weit voraus; der Mensch denkt sehr kurzfristig. Die Natur wählt Artenvielfalt; wir ziehen die Standardisierung vor. Wir homogenisieren unsere Landwirtschaft, und wir homogenisieren uns selbst.
Das warnende Beispiel des Regenwalds schlägt der Mensch in den Wind und knüpft sein Schicksal an eine wirklich schlechte Wette, die ihm die internationale Agrarindustrie vorgibt. Unser Nahrungsangebot, das einst so heterogen war, basiert heute auf einer weltumspannenden Monokultur genetisch homogener Pflanzen und Tiere. Nichts haben wir aus der Großen Hungersnot in Irland gelernt, sondern gehen achselzuckend über die doch ungezählte Male unter Beweis gestellte Macht der Natur hinweg, einen aggressiven Organismus hervorzubringen, der dann unsere Nahrung verspeist.
Und die internationalen Pharmariesen scheinen eine Parallelaktion geplant zu haben, um ihrerseits eine Monokultur zu erzeugen: eine menschliche Monokultur. Unterstützt von einer übereifrigen Psychiatrie, werden alle Unterschiede zwischen Menschen zu einem »chemischen Ungleichgewicht« eingeebnet, das mit einer praktischen Pille behandelt werden muss. Unterschiede als Krankheit zu verkaufen zählt zu den Geniestreichen des Marketings unserer Zeit – verkaufstechnisch betrachtet auf einer Stufe mit Apple und Facebook. Aber viel weniger nützlich, potenziell viel gefährlicher.
Ich habe einmal ein Konzeptkunstwerk gesehen, das eine schaurige Botschaft aus der Schönen neuen Welt verkündete. In akribischer Fleißarbeit hatte die Künstlerin sämtliche Wellenlängen eines Renaissancegemäldes mit seiner Fülle an Details und seiner brillanten Farbenpracht vermessen. Sie mischte die Farbe, die dem Mittelwert sämtlicher Wellenlängen entsprach, und stellte ein riesiges monochromatisches Bild daraus her: Die Farbe kann nicht anders beschrieben werden denn als Fäkalbraun. So leicht ist es, lebendige Unterschiede zu planieren, und wie trostlos das Ergebnis! Die großen Figuren aus Mythos, Literatur und Schauspiel haben Jahrhunderte und Jahrtausende überdauert, eben weil sie so bunt und vielfältig von der Mitte abweichen. Wollen wir tatsächlich Ödipus auf die Couch legen, Hamlet einem Schnellkurs in Verhaltenstherapie unterziehen, König Lear mit Neuroleptika abfüllen?
Ich glaube nicht. Die menschliche Vielfalt hat ihren Sinn, sonst hätte sie den erbarmungslosen Wettkampf der Evolution nicht überstanden. Unsere Vorfahren haben sich fortgepflanzt, weil der Stamm einer breiten Vielfalt von Talenten und Neigungen Heimat bot. Es gab Anführer, die vom eigenen Narzissmus berauscht waren, und Mitläufer, die zufrieden in ihren Fußstapfen folgten; Menschen, die paranoid genug waren, um verborgene Gefahren zu wittern, und zwanghaft genug, um die Sache zu erledigen; und extrovertiert genug, um Partner zu finden. Es war gut, einige Mitglieder zu haben, die Gefahren aus dem Weg gingen, und andere, die sie skrupellos ausnutzen konnten. Vielleicht waren die gesündesten
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