Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
Vom Netzwerk:
treu. Sie erwartete zu viel, stellte zu rasch zu viel Nähe her, bekam Angst vor Zurückweisung und legte ein zornig-manipulatives Verhalten an den Tag, das ihre schlimmsten Befürchtungen wahr werden ließ. »Wenn ich dann wieder allein dastand, konnte ich mich nicht beherrschen und machte großen Blödsinn. Sobald eine Beziehung zu Ende war, fühlte ich mich, als würde ich in einem schwarzen Loch entzweigerissen. Dann fing ich an, mich zu ritzen, das beruhigte mich – nichts hilft so gut gegen seelischen Schmerz wie körperlicher Schmerz.«
    Fast ebenso chaotisch wie ihr Liebesleben waren Brandys Erfahrungen an Schule und Uni, ihr Familienleben und ihre sozialen Kontakte. Durchaus intelligent, brachte sie es dennoch nie fertig, eine einmal begonnene Aufgabe abzuschließen, und war immer eine Enttäuschung für sich und andere. Mit fünfundzwanzig war sie an vier verschiedenen Colleges gewesen und von jedem im Streit geschieden, für den Uniabschluss fehlten ihr immer noch dreißig Scheine. Sie hatte keinerlei Kontakt mit ihrer Familie, ausgenommen einer Schwester, und ihre Freundschaften dauerten in der Regel nur Monate, ehe sie mit einem Eklat endeten. Keine Therapie hatte ihr je auch nur im Geringsten geholfen, vielversprechende Anfänge hatten sich rasch im Sand verlaufen.
    Ein Tiefpunkt war erreicht, als Brandy einen spontanen Selbstmordversuch unternahm und zehn Schlaftabletten schluckte. Sie blieb über Nacht im Krankenhaus und wurde dann in ein ambulantes Programm aufgenommen, das den Schwerpunkt auf die eigens für Borderline-Fälle entwickelte Dialektische Verhaltenstherapie ( DBT ) legte. »Von der ersten Minute an änderte sich meine Einstellung gegenüber der DBT . Die Leute verstanden und akzeptierten mich, aber sie erwarteten auch von mir, dass ich mich ändere und mehr Verantwortung für mich und mein Verhalten übernehme. Ich konnte sie nicht manipulieren oder täuschen, aber ich spürte, dass sie mich wirklich ernst nahmen und wussten, wie sie mir Hilfe zur Selbsthilfe geben konnten. Ich mag meine Therapeutin und wäre ihr gern ähnlicher.«
    Brandy lernte konkrete Strategien, um ihre selbstzerstörerischen Verhaltensweisen in den Griff zu bekommen. So gewöhnte sie sich zum Beispiel an, Gummibänder gegen das Handgelenk schnalzen zu lassen, statt sich die Haut mit Rasierklingen aufzuschneiden. Sie übte es, Beziehungen langsam anzugehen, währenddessen geringere Erwartungen zu haben, sie weniger dramatisch zu beenden. Brandy schaffte es, das College abzuschließen, und arbeitet jetzt an ihrem Master in psychosozialem Counseling. »Ich gehe immer noch leicht in die Luft und kann ungeheuer empfindlich sein, aber ich lerne schnell, und ich glaube, ich bin fast so weit, dass ich meine Erfahrung nutzen kann, um anderen zu helfen.«
    Adams Geschichte: Überwindung einer Zwangsstörung
    Adam war der ewige Doktorand – sieben Jahre saß er schon an seiner Doktorarbeit und schien außerstande, sie jemals zu beenden. Jedes Mal, wenn sein Doktorvater fand, er sei jetzt so weit, die Arbeit einzureichen, begann sich Adam mit ihren, wie er fand, eklatanten Mängeln zu quälen und war überzeugt, dass er alles noch einmal neu strukturieren und umschreiben musste. Eine Nacht lang rotierte er mit panischen Vorstellungen von totalem Scheitern, bis er sich entschloss, die komplette Überarbeitung in Angriff zu nehmen. Er begann neues Material aufzunehmen, verwarf einzelne Kapitel und Fußnoten, verfasste neue Teile – und vor allem sorgte er dafür, dass die Arbeit garantiert niemals fertig würde und zur Begutachtung vorgelegt werden müsste.
    »Mir war klar, dass es verrückt und kontraproduktiv war, meine Dissertation ständig umzuschreiben, aber es ging nicht anders – ich hatte keine Kontrolle darüber. Natürlich war es bescheuert, ständig alles umzuwerfen, aber es nicht zu tun, machte mich rasend. Und es ging ja nicht nur um die Dissertation. Ich brauchte jeden Tag eine Stunde, um mich anzuziehen, weil ich einem komplizierten Ritual folgte, das von Anfang bis Ende tadellos durchgeführt werden musste, und wenn ein Schritt falsch war, musste ich noch mal von vorn anfangen. Außerdem waren meine Tage mit dämlichen Ess- und Schlafritualen ausgefüllt, und ich musste sehr viel Zeit für Beten verwenden.«
    Adams Rituale hatten in der Kindheit begonnen und sich im Lauf des Lebens allmählich gesteigert, bis sie fast seine gesamte Zeit in Anspruch nahmen. Bis dahin hatte er jede Therapie verweigert – aus

Weitere Kostenlose Bücher