Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Individuen jene, die alle diese Eigenschaften irgendwo nahe der goldenen Mitte ausbalancierten, aber die besten Chancen hatte die Gruppe, wenn sie Ausreißer zu ihren Mitgliedern zählte, die bereit waren, Herausforderungen anzunehmen, wann immer sie sich boten. Genau wie die vielen verschiedenen Insekten- und Baumarten im Regenwald.
Darwin kam rasch auf die Idee, dass die Arbeitsweise unseres Gehirns und die daraus resultierenden Verhaltensweisen des Menschen im selben Maß das Ergebnis natürlicher Auslese sind wie die Form unseres Körpers und die Funktion des Verdauungssystems. Um den Menschen zu verstehen, meinte er, sollten wir lieber Paviane studieren statt Bücher über Philosophie und Psychologie. Und er beobachtete Tag für Tag seine heranwachsenden und sich entwickelnden Kinder mit dem erfahrenen Auge eines ebenso brillanten wie akribischen Naturwissenschaftlers. Er erkannte, dass wir negativer Gefühle wie Trauer, Angst, Panik, Abscheu, Wut deshalb fähig sind, weil sie einen hohen Überlebenswert haben. Sie sind ein unvermeidlicher, existenzieller Teil des menschlichen Lebens: Wir müssen den Verlust geliebter Mitgeschöpfe betrauern, sonst könnten wir sie niemals ganz lieben. Wir müssen uns um die Folgen unseres Handelns Sorgen machen, sonst brächte uns dieses Handeln in Schwierigkeiten. Wir müssen unsere Umgebung ordnen, sonst versinken wir im Chaos. Nur an den äußeren Rändern, fernab der goldenen Mitte, lauert Krankheit. Die Mehrzahl unserer Handlungen hat einen guten Grund. Die Mehrzahl der Menschen ist normal.
Exzentrizität gefällt mir, wie mir die Exzentriker gefallen. Der Begriff kommt vom lateinischen ex centro , »außerhalb der Mitte«. In unseren Wortschatz ging er über die Astronomie ein: Dort bedeutet Exzentrizität die Abweichung der elliptischen Bahn eines Himmelskörpers. Heute beschreiben wir damit Menschen, die anders sind – und meist meinen wir es etwas abfällig; nicht oft genug schwingt die Bewunderung für das besondere Genie des Exzentrikers mit. Die Natur verabscheut Homogenität und liebt exzentrische Vielfalt. Wir sollten uns freuen, dass die meisten Menschen zumindest partiell ein bisschen exzentrisch sind, und uns akzeptieren, wie wir sind, samt all unseren Warzen und sonstigen Mängeln. Die Unterschiede zwischen Menschen sollten sich nie auf eine allumfassende, sorglos aus einem Psychiatriehandbuch zusammengestellte Liste von Diagnosen reduzieren lassen. Ein erfolgreicher Stamm braucht alle möglichen Typen, und eine breite Palette von Emotionen macht ein reiches Leben. Wir sollten Unterschiede nicht pathologisieren und wegzutherapieren versuchen, indem wir die modernen Äquivalente von Huxleys Droge Soma nehmen. Das grausamste Paradox psychiatrischer Behandlung ist, dass sie Menschen verweigert wird, die sie am meisten brauchen, während diejenigen, die sie bekommen, oft keine brauchen.
Wie stellen wir es also an, die Normalität zu retten, die Vielfalt zu erhalten, die knappen Mittel, die vorhanden sind, vernünftig zu verteilen? Einfach ist es nicht, aber gewiss nicht unmöglich. Unsere Profis sollten sich professionell verhalten und innerhalb der eigenen Kompetenzen bleiben. Psychiater sollten tun, was sie am besten können, nämlich Menschen behandeln, die reale psychiatrische Probleme haben, und ihre Disziplin nicht auf besorgte Gesunde ausweiten, die bestens ohne Medikamente zurechtkommen. Auch Hausärzte sollten sich an das halten, was sie am besten können, und nicht als Psychiater dilettieren. Pharmaunternehmen sollten sich nicht wie Drogenkartelle aufführen, indem sie ihre Erzeugnisse wahllos unters Volk werfen, wo sie mehr Schaden als Nutzen anrichten. Verbraucherorganisationen sollten sich für die Verbraucher starkmachen und keine Lobbyarbeit betreiben. Die Medien sollten übertriebene Behauptungen der Pharmaindustrie anprangern, nicht gedankenlos weitertragen.
Besteht eine realistische Chance, die diagnostische Inflation umzukehren, oder ist der Würfel bereits zugunsten einer endlosen Parade falscher Epidemien gefallen? Meine rationale Seite sagt mir, dass die diagnostische Inflation siegen und die Normalität untergehen wird. Wir Inflationsgegner sind zu wenige und zu schwach, wir sind unterfinanziert, desorganisiert und haben die Wahrscheinlichkeit gegen uns. Aber dann muss ich an die entmutigte Armee aus Heinrich V . denken – »Uns wen’ge, uns beglücktes Häuflein Brüder« –, die in der Schlacht von Azincourt ein fünfmal so
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