Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Furcht, sie könnte ihn noch rasender machen, weil sie seinen Ritualen in die Quere kam. Aber irgendwann gab es kein Zurück mehr, weil sein Doktorvater gedroht hatte, er werde ihn, falls er den nächsten Abgabetermin wieder nicht wahrnehme, aus dem Promotionsverfahren ausschließen.
»Der Psychiater war ein guter Typ, er verstand, unter welchem Druck ich stand. Er erklärte mir, dass der einzige Weg, eine Zwangsstörung zu überwinden, darin besteht, die Angst nicht mehr durch Rituale zu neutralisieren, sondern sich ihr zu stellen. Im Fall meiner Dissertation war das relativ leicht, wenn auch beängstigend – ich musste bloß die letzte Fassung einreichen, ohne auch nur eine einzige Seite noch mal zu lesen. Er zeigte mir Techniken, wie ich mit der Angst fertig werde, und ich sprang ins kalte Wasser – ich hatte ja keine andere Wahl. Es waren grauenhafte Wochen, aber der Promotionsausschuss nahm die Dissertation bald an, und die Sache lief.«
Adams übrige Rituale erwiesen sich als hartnäckiger, denn sie waren fester Bestandteil seines Alltags und weniger destruktiv. Aber zwei Jahre Therapie und medikamentöse Behandlung haben ihn nach und nach wieder zum Herrn über seine Zeit gemacht. »Ich habe immer noch ein paar Lieblingsrituale, aber sie verschlingen nicht viel Zeit, und ich muss sagen, dass ich mich zum ersten Mal seit Jahren als freier Mensch fühle.«
Machen wir’s gut
Eine falsche psychiatrische Diagnose kann ein absolutes Desaster sein und zu aggressiven Therapien mit fürchterlichen Komplikationen und verheerenden Konsequenzen fürs Leben führen. Die schlimmsten Fehler werden unter anderem von Ärzten gemacht, die Ignoranz mit Arroganz paaren – sie wissen nicht, was sie tun, aber preschen voran, als wüssten sie es. Häufig lassen sie sich von Modediagnosen in die Irre führen und folgen blindlings ihrer Lieblingstheorie, statt von den Patienten zu lernen. Sie überdiagnostizieren, weil sie am Patienten nur die Krankheit sehen (oder sich einbilden) und das Gesunde außer Acht lassen. Zu Fehlern kommt es häufig auch dann, wenn von unqualifizierten, nicht dafür ausgebildeten, unerfahrenen Personen aufs Geratewohl Diagnosen gestellt werden. Die psychiatrische Diagnostik ist eine ernste Angelegenheit mit erheblichen, häufig lebenslangen Folgen. Sie verlangt Ausbildung, Erfahrung, Zeit, Empathie und (vor allem) Bescheidenheit.
Wird sie nach den Regeln der Kunst ausgeführt, kann die psychiatrische Diagnostik der Beginn einer erfolgreichen Behandlung sein, die das Leben zum Guten wendet. Die entscheidenden Zutaten dafür sind kein Geheimnis: Es braucht eine/n Kliniker/in mit entsprechender Ausbildung, ausreichender Erfahrung und Menschenkenntnis; einen Patienten, eine Patientin, der/die eine ehrliche und umfassende Beschreibung der Probleme und Beschwerden liefert; die Entstehung einer positiven therapeutischen Beziehung zwischen ihnen; und ausreichend Zeit, um der Vergangenheit auf den Grund zu gehen und zu erkennen, wie sich die Dinge in der Gegenwart entwickeln. Ist die Situation unklar, so muss die definitive Diagnose verschoben werden – Ungewissheit ist weitaus besser als falsche Sicherheit. Eine Diagnose muss immer sorgfältig und nach gründlicher Erwägung gestellt werden, sie muss fundiert sein, aber auch zugänglich für Änderungen, sobald sich neue Hinweise ergeben, die in eine andere Richtung deuten. Die oben porträtierten Personen, denen die Therapie geholfen hat, waren bis zu dem Augenblick der akkuraten Diagnose alle ratlos und durcheinander. Sie verstanden nicht, was mit ihnen los war, fühlten sich hilflos, ausgegrenzt, allein gelassen in der Gegenwart, hoffnungslos bezüglich der Zukunft. Dass die Störung, unter der sie litten, einen Namen bekam, lieferte ihnen eine Erklärung, stellte ihnen einen Helfer zur Seite und sie selbst in eine Gemeinschaft von Leidensgenossen, war der Beginn konkreten Handelns, gab ihnen ein Gefühl von Vorhersehbarkeit und Hoffnung für die Zukunft. Probleme, die bis dahin unlösbar aussahen, erschienen auf einmal überschaubar. Eine akkurate Diagnose (zusammen mit einer einfühlsamen und vernünftigen Aufklärung) ist eine große Erleichterung und ein einschneidender erster Schritt hin zur Genesung. Der Erfolg einer Therapie hängt ganz wesentlich von der Qualität der Beziehung ab, die zwischen Arzt und Patient entsteht. Natürlich ist eine gute Beziehung keine Garantie für rasche Heilung, und eine schlechte Beziehung schließt Heilung
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