Nosferas
wunderte es sie, dass die beiden anderen Kisten noch geschlossen waren. Ihr Bruder und ihr Vetter, mit denen sie die Kammer auf dem oberen Speicher teilte, hatten es bei Sonnenuntergang nie eilig, aus ihren Kisten zu steigen. Alisa war das ganz recht. Ihr jüngerer Bruder Thankmar, den alle außer Dame Elina nur Tammo nannten, war aufsässig und rechthaberisch und ging ihr die meiste Zeit auf die Nerven. Und Sören ließ es sie gern spüren, dass er ein Jahr älter war.
»Und, was gibt es Neues? Irgendetwas Besonderes, das ich wissen sollte?«, fragte sie Hindrik, als sie ihr rotblondes Haar zu einem Knoten drehte und unter einer Schiebermütze verstaute. Hindrik zögerte, doch dann verneinte er.
Die Hände noch an der Mütze drehte Alisa sich um. »Kann es sein, dass du mich gerade anlügst?« Sie sah ihn streng an, doch er hielt dem Blick ihrer hellblauen Augen mühelos stand.
»Aber nein, Fräulein! Du hast gefragt, ob du es wissen müsstest.«
Alisa lächelte. »Aha, ich sollte in Zukunft meine Worte sorgsamer wählen.«
Hindrik lächelte zurück, trat heran und schloss den Deckel ihrer Schlafkiste. »Ja, vielleicht solltest du das.«
»Also, was ist es, von dem du meinst, ich müsste es nicht wissen, das aber garantiert mein Interesse erwecken wird?«
Hindrik schüttelte den Kopf. »Warte es ab. Du wirst es dann erfahren, wenn Dame Elina es für richtig hält.«
Alisa zog schmollend die Lippe hoch. »Du hast doch nicht etwa Angst vor ihr?«
»Ich kenne das Gefühl von Angst nicht mehr«, sagte Hindrik schlicht. »Aber ich bringe Dame Elina Respekt entgegen und werde daher nicht gegen ihre Wünsche verstoßen.«
Alisa wusste, dass das sein letztes Wort war, und verzichtete daher darauf, ihn weiter zu drängen. Sie würde einen anderen Weg finden müssen. In einer der Kisten regte sich etwas.
Alisa hastete zur Tür. »Ich geh dann lieber.«
»Wo willst du hin?«, fragte Hindrik.
»Die übliche Runde«, gab sie ausweichend zurück.
»Du weißt, dass Dame Elina das nicht schätzt! Du solltest nicht allein durch die Gassen laufen.«
»Ach ja?« Empört stemmte Alisa die Hände in die Hüften. »Und die anderen? Die dürfen sich jede Nacht amüsieren! Sie sind im Hafen unterwegs, streifen durch die Stadt oder mischen sich unter die Nachtschwärmer am Spielbudenplatz!«
Hindrik nickte. »Ja, denn sie sind erwachsen.«
»Pah!«, schnaubte Alisa und wandte sich zum Gehen. Vor der Treppe drehte sie sich noch einmal um und sah zu dem Mann in den längst aus der Mode gekommenen Kniehosen und dem Rüschenhemd zurück. »Du wirst mich doch nicht verraten?«
»Wenn mich niemand fragt, dann brauche ich auch nichts zu erzählen. Und nun mach, dass du fortkommst. Du hast es gehört, dein Bruder ist aufgewacht. Wenn er dich sieht, will er dich bestimmt begleiten.«
»Davor mögen mich die Geister der Nacht bewahren!«, sagte Alisa mit einem Schaudern und eilte die vielen Treppen bis in die große Diele hinunter, deren mittlerer Balken die Jahreszahl 1680 trug. Damals hatten sich reiche Kaufleute diese prächtigen Häuser im Barockstil erbauen lassen, die sich am Fleet entlang bis zum Binnenhafen reihten. Außer in den letzten beiden Gebäuden, die die Vamalia schon vor über einhundert Jahren für ihre Familie erworben hatten, lebten und arbeiteten noch immer einige der wohlhabendsten Hamburger Kaufleute in diesen Häusern, die Wohnraum für den Kaufmann und seine Familie und für seine Gehilfen und Bediensteten boten, in denen es aber auch Platz für den Kontor gab und - auf zwei Stockwerken unter dem Dach - Speicher für die Waren. Der schönste Raum im Haupthaus der Vamalia war die Diele, die sich über zwei Stockwerke erstreckte, mit einer umlaufenden Galerie, die von geschnitzten Säulen getragen wurde. Auch die Kassettendecke war mit Schnitzereien verziert, die Felder kunstvoll bemalt und mit Blattgold überzogen. Von der Galerie gingen die Wohn- und Schlafräume der führenden Mitglieder der Familie ab. Im Nebenhaus wohnten die Altehrwürdigen. Die ehemals offenen Speicherböden waren in Kammern unterteilt worden, in denen die jungen Vampire und die Servienten schliefen.
Alisa spürte das vertraute Ziehen in ihrem Kiefer, dem bohrender Hunger und dann betäubende Gier folgen würden. Sie hätte das Gefühl gern ignoriert, doch sie wusste aus Erfahrung, dass ihr der Spaziergang keine Freude bereiten würde, wenn sie versuchte, ihre Natur zu unterdrücken. Daher ging sie in die ehemalige Küche, in der
Weitere Kostenlose Bücher