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Notaufnahme

Notaufnahme

Titel: Notaufnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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Problem. So, und jetzt lach mal, Coop. Nach ein paar Cocktails habe ich meine Flugangst vergessen, und du denkst nicht mehr an Lew …«
    » Drew.«
    »Wie er auch immer heißen mag. Du solltest jedenfalls keine Gespenster sehen, wo gar keine sind. Die Verwirrung ist ohnehin groß genug.«
    Die zwölf Plätze der ersten Klasse waren nur zur Hälfte besetzt. Ich nahm den Sitz am Fenster, zog einige Zeitschriften aus meiner Tasche, tauschte meine Pumps gegen die flachen Slipper aus dem Handgepäck aus und machte es mir mit der Decke und dem kleinen Kissen bequem. Mike bestellte mir einen Dewar’s und sich selbst einen doppelten Jameson’s.
    Als das Flugzeug die endgültige Höhe erreicht hatte, blickte ich hinaus in den dunklen Himmel. Wir waren schon beim zweiten Drink und diskutierten über die unterschiedlichen Menüs. Der Alkohol übte seine entspannende Wirkung auf mich aus, und langsam ebbte meine Aufregung über die Umstände meines Zusammentreffens mit Drew ab. Nach meiner Rückkehr nach New York würde ich die Sache in Ruhe klären. Für den Augenblick fand ich Gefallen daran, zehntausend Meter über der Erde zu schweben und außer Reichweite von Pagern und Telefonen zu sein. Ich genoss meine fliegende Isolationszelle.
    Während des Essens quasselte Mike in einem fort. Er erzählte von alten Fällen, von Pannen und witzigen Erlebnissen mit alten Kollegen, von Morden, die nie aufgeklärt worden waren, und von Opfern, die man nie identifiziert hatte. Als das Dessert und der Cognac serviert wurden, war es kurz vor zehn, und irgendwo östlich von Grönland kuschelte ich mich in meine Decke.
    »Wenn du dir aussuchen könntest, jemand anders zu sein, für wen würdest du dich entscheiden?«
    »Was?«
    »Stellst du dir nie vor, jemand anders zu sein?« wollte Mike wissen. »Nenn mir drei Personen, tote oder lebende, in deren Haut du gerne schlüpfen würdest. Aber verschon mich bitte mit Mutter Therea, Albert Schweitzer oder ähnlichen Wohltätern. Ganz ehrlich, mir wem würdest du gerne tauschen?«
    Mit angezogenen Knien, den Cognacschwenker in beiden Händen, dachte ich über meine Antwort nach. »Am allerliebsten – Shakespeare.«
    »Ehrlich? Darauf wäre ich nie gekommen.«
    »Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Mensch sich all das ausdenken konnte – die Sprache, die Themen, die Bilder, die Vielfalt der Worte und Ideen. Noch lieber wäre ich vielleicht Mrs. Shakespeare gewesen; dann hätte ich mir abends von ihm erzählen lassen, was er tagsüber geschrieben hat, und hätte ihm Inspirationen für sein Werk geliefert. Ich glaube, kein anderer Schriftsteller hat je Sprache wunderbarer zum Einsatz gebracht.«
    »Magst du alles von ihm? Ich meine, hast du alles gelesen?«
    »Nein, nicht alles, aber meine Lieblingswerke habe ich mehrmals gelesen. Hauptsächlich die Tragödien. Ich liebe seine Tragödien.« Ich hob den Kopf und sah Mike an. »Glaubst du, mit mir stimmt irgendwas nicht? Ich meine, weil ich so gerne Tragödien lese? Und ständig mit Morden zu tun habe, und überhaupt mein Job …«
    » Stellst du dir diese Frage zum ersten Mal?«
    »Nein, aber an machen Tagen bin ich mir wirklich nicht so sicher. Aber wer würdest du gerne sein?«
    »Neil Armstrong. Der erste Mensch auf dem Mond. Der Gedanke, ein Pionier in einer ganz und gar neuen Welt zu sein und …«
    Ich schüttelte den Kopf. » Schlechte Antwort. Du mit deiner Flugangst könntest unmöglich Astronaut sein.«
    »Ich will nur der Mensch sein, der zuerst den Mond betreten hat. Ich hab’ nicht gesagt, dass ich gerne in einer Rakete fliegen würde oder …«
    » Das ist aber nicht logisch. Es gibt nur einen Weg, um auf den Mond zu kommen, und dafür kämst du niemals in Frage. Der Flug ist viel zu lang, und außerdem gibt’s da keinen Alkohol. Nächster Vorschlag.«
    »Okay.« Mike dachte einen Augenblick lang nach. »Meine zweite Wahl ändert sich von Zeit zu Zeit, je nachdem, wessen Biographie ich gerade lese. Normalerweise ist’s der Herzog von Wellington, ein großer Militärstratege, der Planer von Waterloo. Und manchmal ist’s auch Napoleon – vor Waterloo, versteht sich. Und manchmal wäre ich sogar gerne Hannibal gewesen, der mit seinen Elefanten die Alpen überquert hat. Aber du siehst, worum es mir im Grunde geht: ein großer General zu sein, ein Feldherr, der seine Truppen in den Kampf führt. In den Stiefeln sterben und so. Und du? Wer ist deine zweite Wahl?«
    »Eine Balletttänzerin – eigentlich keine große Überraschung.«

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