Notaufnahme
Ich warf einen Blick auf meine Uhr und seufzte. »In diesem Moment sitzt jemand anders auf meinem Platz im Theater und genießt Kathleen Moores Auftritt. Diese Kunstform erlaubt nicht den geringsten Patzer; das Publikum sieht jeden Ausrutscher, jeden falschen Schritt. Zu gerne hätte ich die Grazie, die Anmut einer Ballerina. Am allerliebsten wäre ich Natalia Makarova. Aber mir geht es wie dir – manchmal schwanke ich. Dann wäre ich gerne Ferri oder Kent oder Moore. Ich würde gerne tanzen wie in einem Traum und mich in der Musik verlieren. Und weißt du was? Selbst beim Ballett mag ich die Tragödien am liebsten. Muss ich mir Sorgen machen?«
»Dafür ist es schon zu spät, fürchte ich. Hast du jemals eine Hauptrolle getanzt – in der Schule, meine ich?«
»Nur die Königin der Wilis, das ist mein Schicksal. Für die Odile, die Ophelia oder die Prinzessin der Morgenröte hat’s nie gereicht.«
»Wer sind die Wilis? Hab’ ich noch nie gehört.«
»Die Jungfrauen in Giselle , die an unerwiderter Liebe gestorben sind. Endlose Reihen von ihnen schweben in langen, weißen Tüllröcken über die Bühne. Im zweiten Akt tanzen sie euch Herzensbrecher in den Tod. Zur nächsten Aufführung nehme ich dich mit. Und was wäre dein nächster Wunsch?«
»Joe DiMaggio. Manchmal vielleicht auch Babe Ruth oder der alte gute Mick, aber Joe war ein Baseball-Star und hatte Marilyn Monroe. Ich war übrigens im Stadion, als die Yankees die Series gewonnen haben. Ich wäre in die Haut eines jeden von ihnen geschlüpft – Bernie Williams, Derek Jeter. Ich hätte dem Teufel meine Seele verkauft, wenn ich an Wade Boggs’ Stelle die Stadionrunde hätte laufen können. Was für ein großartiger Augenblick.«
»Nicht zu vergessen Andy Pettitte. Der ist ein richtig toller Typ. Also ehrlich, wenn du Andy Pettitte oder Derek Jeter wärst, hätte ich vielleicht sogar Interesse an dir.«
»Okay, letzte Runde. Wer darf’s jetzt sein?«
»Klarer Fall: Tina Turner. Nach der Trennung von Ike, wohlgemerkt.«
»Ich kann’s kaum fassen, Blondie.«
»Erinnerst du dich an die Private Dancer Tour im Jahr 1985? Als sie im Madison Square Garden die schwindelerregend hohe Treppe ganz von oben runterkam? Mit ihrer Wahnsinnsmähne, den endlos langen Beinen, dem ultrakurzen Minirock und den irren Stiletto-Absätzen? Und dabei sang sie ›What’s Love Got to Do with It‹. Ehrlich, an dem Abend wäre ich dafür gestorben, wenigstens eine ihrer Chorsängerinnen zu sein. Nina hat mir das Konzert auf Video aufgenommen, und immer, wenn ich Depressionen habe, lege ich das Band ein. Danach geht’s mir wieder gut. Also, ich will Tina sein.«
»Damals, bei Battaglias Jubiläumsfete, hast du ‘ne richtig tolle Imitation von ihr hingelegt – für ‘ne Weiße, versteht sich. Ich dachte, Battaglia würde die Kinnlade runterklappen, als er dich so sah.«
»Himmel, sag mir bitte nicht, dass er zu dieser Uhrzeit noch da war? Ich dachte, er wäre längst gegangen. Ich hatte keine Ahnung, dass er das noch gesehen hat.«
»Mit Tina Turner liegst du gar nicht mal so schlecht, Coop. Die einzige Braut der Welt, die fast genauso gute Beine wie Tina hat, ist deine alte Dame. Nur an deiner Stimme müssen wir noch arbeiten.«
»Und deine dritte Wunschperson?« fragte ich lächelnd.
»Ein berühmter Regisseur. Vielleicht Hitchcock, Spielberg oder Truffaut. Ich bewundere ihre Kreativität. Geschichten auf die Kinoleinwand bringen, ihnen Leben einhauchen, Millionen von Menschen unterhalten, wieder und wieder. Sich Sagas ausdenken, Personen erfinden. Es dürfte auch Carlo Ponti sein.«
»Was? Der führt auch Regie? Ich dachte, er sei Produzent.«
»Wie auch immer. Abends geht er jedenfalls mit Sophia Loren ins Bett, das ist ja auch nicht schlecht.«
»Kann sein. Jedenfalls haben mich deine Wünsche überrascht. Sie sind ausgefallener, als ich dachte.«
Wenigstens eine Zeit lang hatten Mike und ich über der Unterhaltung unsere Sorgen vergessen. Inzwischen waren wir weiter weg von zu Hause, als wir es noch vor ein paar Tagen für möglich gehalten hatten, doch den Antworten auf die vielen Fragen waren wir noch nicht nähergekommen. Das mit den Schafen hatte bei mir noch nie funktioniert, also schloss ich die Augen und zählte Wilis, bis mich der Schlaf überkam.
22
Nachdem wir in Heathrow die Passkontrolle hinter uns hatten, hielten wir in dem Schilderwald, den die grau uniformierten Fahrer hinter den Absperrungen in die Höhe streckten, Ausschau nach unserem
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