Notaufnahme
begrüßte mich aufs Freundlichste und führte mich zu meinem Platz zwischen Professore Vittorio Vicario von der Mailänder Universität und Monsieur Jean-Jacques Carnet vom Pariser Institut de la Paix. Vicario deutete eine Verbeugung an, und Carnet begrüßte mich mit einem Lächeln und einem charmanten »Enchanté«.
»Verehrter Mr. Chapman«, wandte sich Windlethorne an Mike, der nach mir im Raum erschienen war. »Leider haben am Tisch nur die Redner Platz, aber wie Sie sehen, stehen in er zweiten Reihe noch Stühle zur Verfügung, die für die Ehefrauen – oder vielmehr: die Begleitung – der Teilnehmer gedacht sind. Heute Vormittag waren die meisten Gattinnen zugegen, aber heute Nachmittag findet für die Damen ein Ausflugsprogramm statt – berühmte Gärten, Windsor Castle und eine Bootsfahrt auf der Themse. Vielleicht möchten Sie …«
» Oh, vielen Dank, aber ich möchte mir keinesfalls die Vorträge entgehen lassen.«
Ich sah mich in dem Raum um. Die einzige andere Frau war die Leiterin des australischen Amts für Bewährungshilfe; der Stuhl hinter dem ihrem war leer, wie übrigens – mit Ausnahme von zweien – alle anderen auch: Hinter einem früheren französischen Justizminister thronte pflichtbewusst dessen Frau oder Geliebte, und der dänische Kriminologe genoß sichtlich die Schultermassage seiner kaum dem Teenageralter entwachsenen Begleiterin.
»Die behandeln mich wie ein nutzloses Anhängsel, das du zusätzlich zu deinem Gepäck mitgebracht hast. Dafür bist du mir etwas schuldig, Coop«, raunte Chapman mir zu, während wir darauf warteten, dass alle Teilnehmer Platz nahmen.
»Du hättest besser doch am Ausflug teilnehmen sollen; vielleicht hätte eine der Gattinnen sogar Gefallen an dir gefunden.«
»Pass lieber auf, Blondie, dass du nicht Windlethornes Charme erliegst. Ich weiß doch, wie sehr du auf distinguierte Herren stehst.«
Ich ließ meinen Blick zum Tischende wandern. Lord W. kaute am Bügel seiner Nickelbrille, während er mit einem dicklichen Deutschen diskutierte, der seine Worte mit zahlreichen Gesten unterstrich. Als Windlethorne lächelnd meinen Blick erwiderte, errötete ich. Mike hatte recht; er war wirklich genau mein Typ.
Lord Windlethorne forderte die Teilnehmer auf, Platz zu nehmen; dann stellte er mich der Runde vor und kündigte die folgenden Vorträge an.
Der Schweizer Finanzminister eröffnete die Nachmittagssitzung mit einem fünfundvierzigminütigen Beitrag über Finanzbetrug und das Internet.
Anschließend verlagerte sich der Schwerpunkt in Richtung Gewaltverbrechen. Den folgenden vier Rednern standen jeweils zwanzig Minuten zur Verfügung – die Australierin sprach über die neuesten Erkenntnisse im Umgang mit jugendlichen Straftätern; der Deutsche, ein Soziologe und Fachmann auf dem Gebiet ethnischer Gewalt innerhalb Europas, bot einen Ausblick auf zukünftige Entwicklungen; Creavey lieferte eine Analyse terroristischer Taktiken und schlug Möglichkeiten der Bekämpfung vor; und schließlich trug ich meine Version von Battaglias Positionen hinsichtlich der Zukunft Amerikas vor – Verbrechen und Strafe.
Lord Windlethorne zündete seine Pfeife an und eröffnete die Diskussion. Wie viele Europäer schienen auch die hier anwesenden Fachleute in hohem Maße an den Problemen der amerikanischen Großstädte interessiert zu sein, die sich zu diesem Zeitpunkt noch wesentlich von ihren eigenen unterschieden.
»Wie sieht es mit Ihrem eigenen Spezialgebiet aus, Miss Cooper?« fragte Professore Vicario. »Glauben Sie, dass es für uns Europäer von Bedeutung ist?«
In meinem Vortrag war ich aus Zeitgründen nur am Rande auf das Thema der sexuellen Gewalt eingegangen; um so mehr freute ich mich, dass es nun in der Diskussionsrunde zur Sprache kam. »So fortschrittlich Sie auch auf vielen anderen Gebieten sein mögen, so rückständig sind Sie im Hinblick auf dieses Thema. Um zu begreifen, wie breitgefächert und komplex dieser Bereich ist, müssen Sie nur die schrecklichen Fälle von Kindesmissbrauch betrachten, die sich im vergangenen Jahr in Belgien ereignet haben – Pädophilenringe, die mit den Behörden gemeisame Sache machen. Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, Professore, aber gerade in Ihrem Land existieren in Bezug auf Ehegattenmissbrauch noch ziemlich archaische Gesetze. Und einmal abgesehen von meinem eigenen Interessensbereich, ist es für mich geradezu unbegreiflich, dass man eine derart hochkarätig besetzte Konferenz einberufen kann, ohne
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