Notaufnahme
während sie an den wartenden Zivilisten, Polizisten und Zeugen vorbeiging. Vor der schweren Holztür machten die beiden halt, und Debbie beugte sich zu der Kleinen hinunter, um sich zu versichern, dass sie bereit zur Aussage war.
Das Mädchen nickte entschlossen, und Debbie öffnete die Tür und führte sie vorbei am Stenographen zum Zeugenstuhl im vorderen Teil des Raumes. Ich war diesen Weg im Lauf des vergangenen Jahrzehnts Hunderte von Malen gegangen – mit Frauen, Männern, Jugendlichen und Kindern. Unzählige Male hatte ich beobachtet, wie sich die Münder der dreiundzwanzig Juroren angesichts der Grausamkeiten, zu denen Menschen fähig waren, entsetzt öffneten. Ich erkannte die Bedeutung der Grand Jury an und respektierte ihre Macht. Aber andererseits wusste ich auch, wie ein manipulativer Staatsanwalt das zerbrechliche Gleichgewicht zu seinen Gunsten verschieben und ein unschuldiges Schinkensandwich anklagen konnte, wenn er es darauf anlegte.
Sechs Minuten später verließ das Kind den Raum wieder. Danach war der Vater an der Reihe, gefolgt von zwei Polizisten, die am Tatort erschienen waren und die Verhaftung vorgenommen hatten.
Debbie und der Stenograph kam zu uns in den Warteraum, so dass die Geschworenen sich beraten und abstimmen konnten. Schon nach wenigen Sekunden ertönte der Summton – das Zeichen, dass die Entscheidung gefallen war. Keiner, der das Kind gesehen hatte, konnte daran zweifeln, dass Anklage erhoben wurde – und tatsächlich beschuldigte man die Freundin des Vaters des versuchten Mordes.
Jetzt winkte mich der Verwaltungsbeamte in den Raum. Ich ging vor und legte meinen Block und das Strafgesetzbuch auf den dafür vorgesehenen Tisch.
»Guten Morgen, meine Damen und Herren. Mein Name ist Alexandra Cooper. Ich bin Staatsanwältin und möchte die Eröffnung der Ermittlungen im Mordfall Gemma Dogen beantragen.«
Der Groschen schien noch nicht gefallen zu sein. Ich musterte die Geschworenen, die mir gegenüber auf einer im Halbrund angeordneten Tribüne saßen, zwei Reihen à zehn Personen, und darüber nochmal drei: der Obmann, sein Vertreter und die Sekretärin. Normalerweise lag so früh am Morgen vor ihnen noch die Zeitung, und sie kauten an ihren Muffins und Bagels, die sie trotz der Hinweisschilder, dass der Verzehr von Speisen im Saal verboten sei, mitgebracht hatten.
»Ich kann noch keine Beweismittel vorlegen, aber das wird in Kürze der Fall sein. Ich möchte Ihnen ein Kennwort geben, mit dem ich den Fall bezeichnen werde, sobald ich das nächste Mal hier erscheine, und das wird sicher innerhalb Ihrer Geschworenenzeit sein. Da Ihnen so viele verschiedene Fälle zu Gehör gebracht werden, können Sie sich anhand des Kennworts besser daran erinnern. Es lautet › Mid-Manhattan-Krankenhaus‹.«
Das war wohl eindeutig genug. Die Geschworenen strafften die Schultern und machten einen aufmerksameren Eindruck. Manche von ihnen unterrichteten ihren Nachbarn flüsternd davon, dass es sich bei meinem Fall wohl um den jener Ärztin handelte, von deren gewaltsamem Tod sie aus der Zeitung oder den Nachrichten erfahren hatten. Die braunen Papiertüten mit den Frühstücksresten wurden eiligst unter den Sitzen verstaut. Zwei Männer in der ersten Reihe musterten mich aufmerksam von Kopf bis Fuß und versuchten sich wohl vorzustellen, wie ich ihnen noch vor Ablauf des Monats den mutmaßlichen Mörder präsentieren würde.
»Ich möchte Sie ausdrücklich daran erinnern, dass Sie als Geschworene die Medienberichterstattung im Fall Gemma Dogen nicht mitverfolgen dürfen.«
Lächerlich, schoss es mir bei meinen belehrenden Worten durch den Kopf. Jetzt, wo sie wussten, dass sie mit diesem Fall zu tun hatten, würden die meisten von ihnen erst recht von einer Nachrichtensendung zur nächsten schalten, um ja keine Einzelheit zu verpassen.
»Die einzigen Beweismittel, die Sie in diesem Fall zu Ihrer Entscheidungsfindung benutzen dürfen, sind die, mit denen Sie in diesem Raum konfrontiert werden. Presseberichte und Meinungen von Verwandten und Freunden dürfen keine Rolle spielen. Und selbstverständlich ist es Ihnen nicht erlaubt, untereinander über diesen Fall zu sprechen. Ich lasse die Vorladungen hier, damit der Obmann sie unterschreiben kann, und werde in der nächsten Woche wieder vor Ihnen erscheinen. Vielen Dank.« Wenn die Ermittler nicht in ein, zwei Tagen einen überraschenden Durchbruch landeten, würde ich die ersten Beweisstücke wohl erst dann präsentieren, wenn ein
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