Notaufnahme
Tatsachen zu verschleiern und ihre Rolle zu beschönigen. Und das Schlimme war, dass die wenigen, die das taten, nicht nur ihre eigene Glaubwürdigkeit reduzierten, sondern automatisch auch die aller anderen Opfer.
Als ich alle Rückrufe erledigt hatte, erschien auch schon Mercer, um mich abzuholen.
»Piepsen Sie mich an, Laura, falls Sie mich brauchen. Wir sind im Leichenschauhaus.«
9
Mercer manövrierte seinen Dienstwagen um die Baustelle auf der First Avenue herum, einen Block südlich von dem blaugrauen Gebäude, in dem sich das Büro des Gerichtsmediziners befand. Nachdem Mercer mich hatte aussteigen lassen und ich über einen Berg aus Eis und festgefrorenem Schneematsch auf den Gehweg geklettert war, stellte er das Auto an einer Parkuhr ab.
»Sieh dir nur den Idioten an«, bemerkte Mercer und deutete hinüber zur anderen Straßenseite auf Chapman. »Der Mann hat wohl noch nie was von ‘nem Wintermantel gehört.«
Mike kam aus einem Supermarkt; bekleidet mit Blazer und Jeanshemd, dessen oberster Knopf offen stand, schien ihm die bittere Kälte nicht das Geringste auszumachen.
Ich winkte ihm zu, woraufhin er eine große Tüte hob und uns »Lunch« zurief. Mercer schaute mich kopfschüttelnd an. Niemand von uns war im Leichenschauhaus so zu Hause wie Chapman. Für ihn und seine Kollegen war es die normalste Sache der Welt, Autopsien beizuwohnen, wohingegen wir von der Sex Crimes Prosecution Unit das Glück hatten, es in den meisten Fällen mit Überlebenden zu tun zu haben – mit Verletzten zwar, aber solchen, die lebten und atmeten.
»Nicht durch den Haupteingang«, rief Chapman uns zu, als ich mich anschickte, die Treppe des Gebäudes zu betreten. »Kirschner ist noch unten im Keller.«
Ich hatte noch nie den Seiteneingang an der Dreiunddreißigsten Straße benutzt, also folgte ich Mike und Mercer um die Ecke bis zu der Parkbucht, in der Kranken- und Notarztwagen ihre toten Passagiere ablieferten. Ein Polizist prüfte unsere Dienstausweise und ließ uns eintreten. Auf der gewundenen Rampe gingen wir runter zu den Autopsiesälen.
Mike bemerkte, wie ich die grün getünchten Wände musterte; auf Hüfthöhe waren sie ziemlich ramponiert, an vielen Teilen fehlte große Stücke des Putzes. Besonders schlimm sah es in der letzten Kurve am Ende der Rampe aus.
»Ich weiß schon, was du jetzt denkst. Am liebsten würdest Du das ganze Ding neu streichen und hübsch dekorieren lassen. Vergiss es. Hier wird’s nie anders aussehen, Blondie. Oben packen sie die Leichen auf Bahren und geben ihnen dann einen Schubs, so dass sie die Rampe runtersausen. Dabei lassen sich Kollisionen mit der Wand leider nicht vermeiden, aber keine Sorge – die Patienten bekommen davon nichts mehr mit.«
» Ist er nicht ein sensibles Bürschchen«, murmelte Mercer.
Mike führte uns in ein kleines Besprechungszimmer am Ende des Korridors. Darin befanden sich ein drei Meter langer Tisch, ein Dutzend Stühle, eine Tafel und ringsum an den Wänden Schienen, an denen sich Röntgenbilder und Fotos befestigen ließen.
Noch bevor Mercer und ich unsere Mäntel ausziehen konnten, betrat Dr. Chet Kirschner den Raum.
Wir hatten im Lauf der vergangenen fünf Jahre, seitdem er vom Bürgermeister zum Chief Medical Examiner berufen worden war, bereits einige Male zusammengearbeitet, und ich schätzte ihn sowohl wegen seiner ruhigen, besonnenen Art als auch wegen seiner enormen Fachkenntnis. Chet war ein großer, spindeldürrer Mann mit dunklem Haar, einer ruhigen Stimme und einem verbindlichen Lächeln, das er allerdings während seiner Arbeit im Autopsiesaal nur selten zeigte.
Nach der Begrüßung setzten wir uns an den langen Tisch, und Mike förderte aus seiner Tüte Sandwiches und Erfrischungsgetränke zutage.
»Was ich Ihnen bis jetzt mitteilen kann, Alexandra, sind lediglich die allerersten Erkenntnisse. Es wird noch ein Weilchen dauern, bis wir die Laborergebnisse der toxikologischen und serologischen Proben bekommen. Beginnen wir also mit den allgemeinen Dingen.«
» Selbstverständlich.«
»Die vier Truthahn-Sandwiches sind Vollkorn mit Russischem Dressing. Wollt ihr?«
»Bitte nicht jetzt, Mike«, antwortete ich. Die sterile Umgebung, der Hauch von Formaldehyd in der Luft und die hässliche Aufgabe, die vor uns lag, verschlugen mir gründlich den Appetit.
Auch Mercer und Chet lehnten dankend ab. Mike packte sein üppig belegtes Sandwich aus und öffnete die Dose mit dem Root-Bier, während Dr. Kirschner einen Stapel
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