Notaufnahme
führte sie aus meinen Büro und erklärte ihr auf dem Gang, wie sie in diesem Fall am besten vorging.
Als ich wieder zurückkam, hielt Chapman schon meinen Mantel bereit. »Komm schon, Blondie, lass mich dich aus diesem Irrenhaus entführen. Wir sammeln Mercer auf und machen uns an einen richtigen Fall. Erinnerst du dich noch, was deine Granny Jenny mir vor ein paar. Jahren auf der Überraschungsparty erzählte, die deine Mutter gegeben hat?«
Ich wusste genau, was jetzt kam: Die Lieblingsklage meiner jüdischen Großmutter, die als Kind aus Russland in dieses Land gekommen und bis zum heutigen Tag stolz darauf war, allen ihren Söhnen einen Collegeabschluss und ein Studium ermöglicht zu haben.
Als ich ihr Mike vorstellte, bemerkte sie wie so oft seufzend: »Ihr Vater hat ihr die beste Ausbildung bezahlt, und was hat dieser Paul Battaglia aus ihr gemacht? Eine Expertin für Pimmels und Muschis. So was gibt’s nur in Amerika.«
17
»Geld oder Liebe?«
»Fifty-fifty, würde ich sagen.«
»Ich glaube, eins überwiegt.«
»Und wozu zählst du die bloße Lust? Worunter fällt Affekt? Oder Sexualmord? Unter Liebe? Das kann wohl nicht sein.«
»Selbst wenn – ich glaube, dass Geld sehr viel häufiger der Auslöser ist als Liebe.«
»Nimm nur mal alle deine Fälle von häuslicher Gewalt. Da geht’s nicht um das, was man sich unter Liebe so vorstellt. Da geht’s um Liebe, die ins Gegenteil umgeschlagen ist.«
»Ach ja? Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass bei häuslicher Gewalt Geld mindestens genauso oft eine Rolle spielt wie Beziehungsprobleme.«
Ich kam aus der Damentoilette der Cafeteria des Mid-Manhattan und platzte mitten in die Unterhaltung zwischen Chapman und Wallace. Es ging um Tatmotive bei Mord.
»Was ist deine Erfahrung, Coop?«
»Hm, keine Ahnung, wahrscheinlich ist Geld das häufigste Motiv.«
»Womit wir’s meist zu tun haben, Mercer, sind Bandenkriege zwischen Crack-Dealern – das ist die Realität. Manchmal schießt ein Dealer den anderen übern Haufen, weil’s Streit um ‘ne Frau gibt, das kommt natürlich vor«, fuhr Mike fort, »aber meistens ist die Frau Teil des Geschäfts. Liebe spielt da bestimmt keine Rolle. Alles, was diese Jungs lieben, sind ihre Pitbulls, ihr Pythons und ihre tätowierten Schwänze – aber nicht ihre Bräute.«
»Also, was war’s bei Gemma Dogen? Geld oder Liebe?« fragte Mercer. Weder Mike noch ich hatten eine Antwort. » Ich bin gespannt, was uns Spector dazu sagen kann.«
Wir bahnten uns den Weg durch zahllose Türen, Gänge und Aufzüge von der Cafeteria bis hoch in den sechsten Stock des Minuit Medical College.
»Werden Sie von Dr. Spector erwartet?« wollte die Rezeptionistin hinter dem Empfangstresen wissen.
»Ja. Wir beide sind von der Mordkommission, und Miss Cooper ist die ermittelnde Staatsanwältin.«
Hätten wir ihr, anstatt unsere Tätigkeiten zu erwähnen, erzählt, wir seien mit Typhus infiziert, wäre die Reaktion nicht sehr viel anders ausgefallen. Stirnrunzelnd betrachtete sie uns, rollte auf ihrem Stuhl einen Meter von uns weg in die andere Richtung und vermied jeglichen weiteren Blickkontakt, während sie Spectors Nummer wählte und ihm mitteilte, »diese Leute« seien da.
»Letzte Tür rechts, direkt vor der Bibliothek.«
Wir gingen den Gang entlang, vorbei an dem unbeleuchteten Raum, in dem sich Gemma Dogens Büro befunden hatte.
Spector begrüßte uns bereits an der Tür mit der Offenheit und Freundlichkeit, für die er bekannt war. Er war kleiner als wir alle drei, und sein rötlich braunes Haar begann sich zu lichten.
Trotzdem wirkte er jünger als zweiundfünfzig – das Alter, das Mercer in seinen Unterlagen notiert hatte.
Ähnlich wie Gemmas Büro war auch das von Spector mit medizinischem Gerät, Fotos und Auszeichnungen vollgestopft. Doch im Gegensatz zu ihrem fanden sich hier zahlreiche persönliche Gegenstände – Kinderbilder in Plexiglasrahmen, Poster und witzige Geschenke von Studenten.
»Sie sind also die Leute, die in unserem kleinen Laden wieder für Ruhe und Ordnung sorgen wollen?«
»Ganz das Gegenteil scheint der Fall zu sein, der charmanten Begrüßung der Dame am Empfang nach zu schließen«, erwiderte Mike.
»Wie Sie sich vorstellen können, sind wir hier noch weit entfernt von jeglicher Normalität – wenn man einen Moloch wie diesen überhaupt jemals als ›normal‹ bezeichnen kann. Die Presse ist nicht gerade freundlich mit uns umgegangen; die haben uns hingestellt, als seien wir nicht
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