Notaufnahme
ich in einer der winzigen Vorführkabinen der Video Unit und spielten die Sequenz wieder und wieder ab, vergrößerten diesen und jenen Ausschnitt, um festzustellen, worauf es der Mörder abgesehen hatte. Ähnelten die Ordner, die wir auf dem Bildschirm sahen und die wir uns zweifelsohne noch einmal in natura anschauen würden, jenen, die die Polizisten im Müll gefunden hatten? Falls die gefundenen Ordner tatsächlich aus Dogens Büro stammten – wo genau hatte der Mörder sie dann her? Hatten sie auf dem Schreibtisch gelegen oder in einem der zahlreichen Aktenschränke gestanden?
»Na, habt ihr was gefunden?« erkundigte sich Bob.
»Hätten wir bestimmt, wenn wir wüssten, wonach wir eigentlich suchen.«
Als wir wieder in mein Büro runterkamen, erwartete uns dort Janine Borman, eine der Assistentinnen in der Prozessabteilung.
»Der Richter von AP5 hat mir ‘ne halbe Stunde Zeit gegeben, um mich auf ein Gesetz zu berufen, andernfalls wird er dem Antrag der Verteidigung auf Niederschlagung der Klage stattgeben. Ich hab’ jetzt keine Zeit mehr für Recherchen und kann mir vorstellen, dass Sie diese Situation auch schon mal hatten. Deshalb wollte ich Sie um Rat fragen.«
Keine Zeit für Recherchen – tolle Ausrede. Wahrscheinlich hat sie keinen blassen Schimmer, wie man eine Recherche durchführt, dachte ich bei mir. »Worum geht’s denn?«
»Um sexuelle Belästigung. Es passierte in der U-Bahn – die Frau hat aber keine Strafanzeige erstattet. Alles, was ich habe, ist die Aussage eines Cops, der das Ganze beobachtet hat.« Bei kleineren Straftaten machten wir oft die Erfahrung, dass die Betroffenen keine Anzeige erstatteten, denn sie wussten, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Täter gefasst wurde, sehr gering war – und die, dass er eine Strafe erhielt, noch viel geringer. Kaum einer Frau, die tagtäglich mit der U-Bahn zur Arbeit fuhr, war es nicht schon mindestens einmal passiert, dass irgendjemand seine Weichteile an ihrem Po rieb; der einzige Vorteil der kalten Jahreszeit bestand darin, dass sich zwischen Täter und Opfer eine zusätzliche Schicht Stoff befand.
»Die Tat?«
Janine schien sich bei der Schilderung dessen, was meinen Berufsalltag ausmachte, nicht besonders wohl zu fühlen. Peinlich berührt suchte sie nach Worten und schielte dabei mehrmals verschämt rüber zu Chapman. »Nun, der … ähm … der Angeklagte, Anthony Gavropoulos, befand sich auf dem … ähm … Bahnsteig. Auf dem Bahnsteig gegenüber stand der Cop. Der Cop sagt aus, der Angeklagte sei hinter die Frau getreten und habe sich … ähm … wie soll ich sagen … ähm … entblößt.«
»Er hat seinen Penis entblößt?« fragte ich.
»Ähm … ja. Und dann bekam er eine … ähm … eine Erektion. Möglicherweise weil er sich an der Frau gerieben hat.«
»Hat er sich an der Frau gerieben oder hat er nicht? Schauen Sie, Janine, das eine ist eine Straftat, das andere nicht.«
»Tut mir leid, ich …«
»Hören Sie mir mal zu, Janine. Wenn Sie mit einem solchen Fall zu tun haben, dann müssen Sie auch die betreffenden Worte aussprechen und die entsprechenden Körperteile benennen. Mit vagen Umschreibungen und rotem Kopf kommen wir da nicht weiter.«
Janine sammelte sich und fuhr fort. »Wir haben der gegnerischen Partei das Angebot gemacht, das Ganze nur als minderes Vergehen zu verfolgen – unter der Bedingung, dass der Angeklagte nach dem Urteilsspruch an einem Besserungsprogramm für Sexualstraftäter teilnimmt.«
»Prima. Und weiter?«
»Der Verteidiger lehnt unser Angebot ab und behauptet, der Cop lüge. Gavrapoulos sagt nämlich, sein Ding sei zu klein, als dass der Cop es vom gegenüberliegenden Bahnsteig aus hätte sehen können – selbst dann nicht, wenn er, Gavrapoulos, eine Erektion gehabt hätte. Hatten Sie so was schon mal?«
Chapman hob den Finger, um auf sich aufmerksam zu machen. »In diesem Fall brauchen Sie weder ein Gesetz noch eine Recherche. Das müssen Sie ganz anders machen: Schicken Sie den Richter aus dem Gerichtssaal, den brauchen Sie hier nämlich gar nicht. Und dann sagen Sie zu Gavrapoulos: ›Hey, Anthony, du bist doch kein Schlappschwanz, oder? Hast du denn gar kein Fünkchen Stolz? Ein richtiger Kerl würde eher eine Verurteilung in Kauf nehmen als zuzugeben, dass sein Ding so klein ist, dass man es gar nicht sieht.‹«
Janines Kinnlade klappte runter. Einen Augenblick lang glaubte sie wirklich, Chapmans Rat sei ernst gemeint.
»Er hat nur einen Witz gemacht, Janine.« Ich
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