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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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Bewegungen gearbeitet hatte. Am Bücherregal stoppte ich. Mich interessierte, was er las. Bücher sagen mir etwas über die Menschen, die sie lesen, doch ich fand weder Klassiker noch Krimis oder Historienschinken. Auf seinem Regal lagen hauptsächlich Comics und Graphic Novels. Das einzige Genre, mit dem ich absolut nichts anfangen konnte und was die Kreaturen auf den Wänden durchaus erklärte. Es enttäuschte mich. Wieso hatte ich ihm eigentlich so viel Bildung angedichtet? Wegen des Rollkragenpullovers? Wegen irgendeiner Philosophie, die nur er verstand? Oder einfach nur, weil ich es so wollte? Aber da entdeckte ich ein zweites Regal, und als ich es in Augenschein nahm, fand ich doch etwas, was mir besser gefiel: Goethes Faust zum Beispiel, Die Nibelungen, Der Weiße Hai , Lyrikbände und Schriften von Marx. Eine seltsame Zusammenstellung. Ich tippte auf eins der Bücher und lachte.
    »Du liest Nietzsche?«
    »Was gefällt dir daran nicht?«
    »Naja, ich denke bei dem immer an die Frau und die Peitsche.«
    Alexander kam näher. »Was ist daran verkehrt?«
    Sein Tonfall klang nicht so, als ob er das ironisch meinte. Ich erinnerte mich an seinen festen Handgriff um mein Kinn und auf einmal fand ich es auch nicht mehr witzig.
    »Du malst sehr gut«, lenkte ich ab. »Aber diese Motive …«
    Ich legte meinen Kopf in den Nacken und ging ein paar Schritte durch das Wohnzimmer. »Dieses Deckengemälde erinnert mich fast schon an eine Art Gegensatz zur Sixtinischen Kapelle. Die Hölle zum Himmel sozusagen.«
    Auch Alex blickte zur Decke. »Es ist die Hölle!«
    Dann sah er mich an. »Interessierst du dich für Malerei?«
    »Ich interessiere mich für jede Art von Kunst. Ich selbst schreibe.«
    »Stimmt, Jens erzählte mir davon. Du schreibst Geschichten und Gedichte.«
    »Davon hat dir Jens erzählt? Naja, es ist ein Hobby … nein, wenn ich ehrlich bin, ist es eher wie eine Sucht.«
    Alex nickte. Dann packte er mich an der Hand und zog mich eilig, sodass ich fast stolperte, durch die knallrote Diele einen Raum weiter in sein Atelier.
    »Das hier ist meine Sucht!«
    Staunend wanderten meine Augen über bizarre Leinwandgemälde auf Staffeleien. Auch hier gab es bemalte Wände. Er malte gut, sehr gut! Realistische Bilder mit unrealistischen Motiven, fantastische Welten, die mich durchaus in den Bann zogen. Aber auch das: Zerrissene Gesellschaften, zerteilt, in Massen von Bruchstücken, Gegensätze und gespiegelte Welten. Mir war, als hätte ich einige der Motive schon irgendwo gesehen. Zwischendrin einzelne menschliche Körper, deren Glieder nicht zusammenhielten und Köpfe, die in zwei Hälften platzten. Einen dieser Köpfe sah ich mir genauer an. Aus dem Schädel eines Mannes quoll das Hirn in zwei Richtungen heraus und verteilte sich über die gesamte poppig bunte Leinwand.
    »Das Gesicht dieses Mannes – er sieht aus, wie du«, stellte ich fest.
    »Wenn du meinst.«
    »Nein, im Ernst, der sieht doch aus wie du! Und der da …«, ich zeigte gegenüber auf ein Bild an der Wand, »… der sieht aus, wie Jens.«
    Auch dieser Kopf geplatzt. Auf einem angefangenen Bild – die zugedeckte Palette stand neben der Staffelei auf einem Tisch – das gleiche Motiv mit dem Kopf einer Frau ohne Gesicht und ein weiteres unfertiges Bild mit den Konturen zweier Menschen.
    Alex ging nicht darauf ein. »Wie war das eigentlich mit Jens und dir?«, fragte er stattdessen.
    Er nahm einen schwarzen Pullover von einem Stuhl und drückte ihn mir behutsam vor den Bauch. »Der müsste dir passen.«
    Ich nahm ihn an mich.
    »Was willst du von mir und Jens wissen?«
    »Warum hast du ihn denn nun verlassen?«
    Knopf für Knopf öffnete ich meine Bluse, während ich noch überlegte, ob ich zum Umziehen in ein anderes Zimmer gehen sollte oder nicht. Ein Mann wie er – vermutlich würde er mich spießig finden. Ich zog sie aus, indem ich Alex den Rücken zukehrte. Ein widerlich säuerlicher Geruch strömte von dem Stoff in meine Nase und ich ließ die Bluse auf den grauen Teppich fallen. Eilig schlüpfte ich in den weichen Pullover und drehte mich wieder um. Er stand noch immer da und beobachtete mich.
    »Ich konnte nicht mehr, Alexander! Ich konnte Jens nicht mehr ertragen. Es ist nicht einfach, das Leben mit einem depressiven Menschen zu verbringen. Das hält man auf Dauer nicht aus, ohne, dass es einen mit runter zieht und ich habe schon immer nahe am Abgrund gestanden. Du kennst mich nicht, kennst meine Vergangenheit nicht.«
    Die Ärmel des

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