Notizen einer Verlorenen
übrig bleiben! Menschen, wie dich und mich!«
Marc blinzelte und tatsächlich ging er deutlich vom Gas. Ich versuchte, die Chance zu nutzen und die Oberhand zu gewinnen. Die Mauern neben uns flitzten an uns vorbei. Autos hupten, die uns links passierten.
»Du fährst jetzt die nächste Abfahrt raus, hörst du? Sicher wird auch die Polizei gleich auftauchen.«
Wo war sie, die Polizei, wenn man sie brauchte?
Vor uns blitzten von Weitem wieder Scheinwerfer auf unserer Spur auf. Ich schwitzte. Marc fuhr zwar langsamer, doch natürlich war gerade keine Abfahrt in Sicht. Unser Wagen schlenkerte, weil Marc unruhig lenkte. Anscheinend erlangte er seinen Verstand zurück und wurde nervös.
Beruhigend legte ich meine Hand auf seine Schulter, die derartig zitterte, dass ich selbst nicht an eine besänftigende Wirkung glaubte. Ruckartig scherte Marc nach links aus, gerade als der Wagen vor uns ebenfalls dorthin auswich. Die Fliehkraft unseres Fahrmanövers warf mich zuerst gegen die Scheibe der Beifahrertür, dann gegen Marc. Ich sah, wie sich die Hauben unserer Autos immer tiefer nach unten senkten. Der Gurt zog sich so straff, dass er sich tief in meinen Oberkörper grub.
Wir standen. Die anderen auch. Wie durch ein Wunder, unversehrt. Durch das Seitenfenster sah ich Gesichter im fremden Fahrzeug. Gesichter, die uns mit weit aufgerissenen Augen anstarrten, unglaublich angstvoll. Vor uns standen weitere Autos und blendeten uns. Marc setzte zurück. Er schlängelte sich an den anderen vorbei und fuhr zügig weiter bis zur nächsten Abfahrt. Ich spürte die Hitze in meinem pochenden Kopf.
Ohne ein weiteres Wort, und ohne aufgehalten zu werden, fuhr Marc mich nach Hause.
Stumm stieg ich aus. Bevor ich die Wagentür zuschmetterte, rief ich: »Du bist echt krank!«
Dann ging ich.
Im Bad fingerte ich zitternd nach meiner Tablettenschachtel. Danach warf ich mich aufs Bett. Ich war erschöpft. Die Tablette schnürte mir den Hals zu.
Mein Kopf
Morgens spürte ich meine Augen. Damit meine ich nicht, meine Fähigkeit das Elend dieser Welt zu sehen, ich meine es wörtlich. Ohne mich im Spiegel zu betrachten, konnte ich die Ausmaße meiner Augäpfel in ihren Höhlen genau bestimmen. Mir war, als versuchten sie, sich über ihre knöchernen Grenzen hinaus auszudehnen und ins Gehirn einzudringen. Vielleicht wollten sie dort etwas finden, was sie in der Offensichtlichkeit der Außenwelt vermissten. Vielleicht wehrten sich meine Augen auch nur gegen mein eigenes Gesicht im Spiegel.
Als ich so da stand, wieder mit diesem Kopf voller Schmerz, überlegte ich, ob es wirklich so schlimm gewesen wäre, mit Marc in den Tod zu fahren. Ich hätte es tatsächlich hinter mir gehabt. Wer wusste schon, was jetzt noch auf mich zukommen würde. Dieser Spiegel in meinem Bad wäre dann leer geblieben, und meine Kopfqualen hätten für alle Zeit ein Ende gehabt. Kaltes Wasser rann vom Wasserhahn über meine Hände. Ich spritzte es mir ins Gesicht und zog mich an.
Wie sich Marc jetzt wohl fühlte? Natürlich hätte ich ihn anrufen sollen, ihn fragen, wie es ihm ginge, aber ich drückte mich davor und ging stattdessen zur Arbeit, wie immer. Doch an diesem Tag hatte ich meine Arbeit scheinbar verlernt. Ich wusste nicht mehr, wie ich es anstellen sollte, die Unterlagen auf meinem Schreibtisch zu bearbeiten und das Telefon zu bedienen. Alles flimmerte mir vor Augen. Nervös durchwühlte ich meine Tasche. Keine Tabletten mehr! Mist, Mist, Mist! Wenn ich erst einmal mitten im Anfall steckte, würde ich im Büro übernachten müssen, denn Autofahren war unmöglich und sich übergebend im Taxi ein Albtraum. Als es schlimmer wurde, versteckte ich mich auf der Toilette. Ich saß auf dem Klo in unserem Bürogebäude und fürchtete, von der Putzfrau entdeckt zu werden! Konnte man noch tiefer sinken? Niemand kann sich vorstellen, wie man sich in dieser Lage fühlt, der es nicht selbst erlebt hat. Erst am Abend schlich ich in mein Büro zurück und rief Marc an. Er nahm nicht ab. Und in diesem Moment konnte ich ihn unsagbar verstehen; wie es ihm erging, wie allein er sich fühlte und was tags zuvor in ihm vorgegangen war. Er wollte ja auch nur, dass all das aufhörte. Wer sollte ihm das verdenken?
Ratlos blätterte ich durch mein Adressbuch im Handy. Ich konnte es kaum lesen. Dann wühlte ich in meinem Portemonnaie. Dort fand ich Alexanders runde Visitenkarte mit Adresse und Telefonnummer. Ich zögerte. Alexander wohnte in Mülheim, ganz in der Nähe meiner
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