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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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Pullovers überragten meine Hände, aber sonst passte er erstaunlich gut. Diese Größe konnte er kaum für sich selbst im Schrank gehabt haben. Alexander musterte meine Brust. Ich senkte die Lider, verschämt wegen seines ungenierten Blickes, doch dann las ich von oben die Aufschrift auf dem Kleidungsstück, die quer über meinem Busen verlief: Verloren!
    Verdutzt hielt ich die Luft an. War ich tatsächlich schon so verloren, dass mir dieser Pullover passte? Alex starrte noch immer auf meine Brust und nun fragte ich mich, ob er tatsächlich nur an diese Aufschrift dachte oder an mehr. Gespannt wartete ich, was geschehen würde. Er hatte mich in seinem Bett schlafen lassen, mich in Büstenhalter und mit nackter Haut gesehen und jetzt erwartete ich, nein ich verlangte, dass er mich berührte. Mein Kopfschmerz pulsierte nur noch im Hintergrund, verdrängt von unvernünftigen Wünschen und Hoffnungen, doch Alex fasste mich nicht an.
    Ich denke heute, dass gerade seine Zurückhaltung mich von da an noch mehr reizte. Obwohl er doch ständig um mich warb und er meine Schwäche für ihn längst durchschaut haben musste, nutzte er sie nicht aus. Überfallen hätte er mich können, mich lieben oder schamlos benutzen, denn niemals wäre ich an diesem Tag in der Lage gewesen, mich gegen mein Innerstes zur Wehr zu setzen.
    Aber nein – er wandte sich ab und ging aus dem Zimmer. Irritiert blickte ich ihm nach, während neben mir an der Wand ein Dämon seine spitze gespaltene Zunge herausstreckte. In seinen Klauen hielt er ein Herz, dessen Blut bis zur Fußleiste tropfte. Dann sah ich dieses Foto. Auf einem niedrigen Tisch mit Farben und Pinseln und unter zwei, drei der Tropfen des blutenden Herzens. Es stieß mir sofort ins Auge, obwohl ich etwas entfernt stand und die Gesichter darauf nicht deutlich erkennen konnte, aber ich spürte, dass ich diese Person neben Alex kannte. Aus der Diele hörte ich Schritte, dennoch nutzte ich die Gelegenheit, mich an seinen Privatsachen zu vergreifen und mir das Foto genauer anzusehen. Ich nahm es hoch. Es zeigte Alex vor einem Kamin in einer fremden Wohnung, mit einem anderen jungen Mann, kumpelhaft umarmt auf dem Sofa, daneben zur Hälfte Kevin; ein Schnappschuss. Vor ihnen auf dem Tisch standen Bierflaschen und Knabbereien und sie lächelten traurig, in T-Shirts mit der Aufschrift › Verloren‹ . Dieser Mann war Jens!
    Ich fühlte Alexander lautlos hinter mir hereinkommen und hielt den Bilderrahmen in meinen Händen, als ich mich umdrehte.
    »Du besitzt ein gerahmtes Bild von dir und Jens?«
    »Ich sagte ja, er war mein Freund.«
    »Aha!«
    »Was meinst du mit Aha ?« Er nahm mir das Foto ab. »Ich bin nicht schwul, wenn du das meinst.«
    Ich hatte es nicht einmal gedacht, aber auf einmal war es ein Verdacht. Hielt er sich deshalb so zurück? Doch warum dann dieses Auflauern vor dem Haus meiner Eltern und diese Schmeicheleien, die Handküsse und zufälligen Berührungen? Immer, wenn ich glaubte, Alex durchschaut zu haben, wurde er zu einem noch größeren Rätsel für mich.
    »Ich vermisse ihn nur so sehr«, sagte er und strich mit dem Daumen über das Gesicht von Jens auf dem Bild. Dann stellte er es auf den Platz zurück, wo ich es herhatte. »So ist das eben – ich vermisse ihn.«
    Aus meinem Inneren schlängelte sich etwas empor, was mir die Augen nässte.
    »Du vermisst ihn so …?« Ich konnte den Satz nicht einmal zu Ende sprechen. Mit einer Hand versuchte ich, meine Tränen und mein fleckiges Gesicht zu verstecken.
    »Ja, so ist das, wenn man einen Freund verliert. Man vermisst ihn«, legte er nach. Er sah ernst aus, bitterernst, so, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
    »Du etwa nicht?«
    »Natürlich vermisse ich ihn auch.« Ich rang um Fassung, schluckte den Schleim, der jetzt meine Nase verstopfte herunter, und suchte verzweifelt nach einem Taschentuch in meiner Handtasche, die Alex mir aus dem Schlafzimmer nachgetragen hatte.
    »Natürlich vermisse ich ihn auch!«, heulte ich los und ich fühlte mich, als hätte Alex mir in den Magen geboxt. Wieder wühlte er in meiner tiefsten Wunde!
    Jetzt endlich nahm er mich in den Arm, nun, wo ich Rotz und Wasser heulte, aussah wie ein schluchzendes Kind und zitterte. Er nahm meinen Kopf zwischen seine großen warmen Hände, strich mit den Fingern meinen Nacken entlang, küsste meine heiße Stirn und dann mein Haar. Ich schloss die Augen und fühlte seine Hände um mich wie die Geburt einer neuen Liebe.
    Küss mich … küss mich!

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