Notizen einer Verlorenen
Alex.
»An derselben Krankheit? Welche?« Er sah mich erstaunt an.
»Na – ich denke, sie leiden beide an Krebs.«
»… beide an Krebs?« Er lachte auf, beherrschte sich aber und sah sich um, da sie es wohl nicht hören sollten. »Sie hat Krebs, aber er …«
Er rutschte noch näher zu mir hin und flüsterte aufgewühlt in mein Ohr, das von seinem aufgeregten Atem kitzelte. Nie war mir mein Ohr derart als erogene Zone bewusst gewesen.
»Jochen hatte vor sehr langer Zeit einen wirklich guten Einfall«, sagte er. »Jahre, bevor ich zum Haus der Verlorenen kam. Doch es funktioniert einfach nicht so, wie es soll.«
»Was war das für ein Einfall?«
»Er hat den Wunsch, an Krebs zu sterben. Das ist paradox, denn bevor er in den Verein kam – das war gleich nach der Gründung – wollte er nicht mehr leben, weil seine Gedanken ununterbrochen nur darum schwebten, bloß nicht einmal an Krebs zu erkranken. Davon war er besessen. Hypochondrischer Wahn! Es gibt da wohl nicht wenige Verwandte von ihm, die an dieser Krankheit gestorben sind. Nachdem er sich aber mit Buchheim und Franziska zusammengetan hat und seinen Tod nun selbst in die Hand nahm, kam ihm kein besserer Gedanke, als diese heimtückische Krankheit absichtlich hervorzurufen.«
»Wie will er das machen?«
»Pst«, Alex zischte.
»Hat er denn nun Krebs?«, flüsterte ich in sein Ohr zurück, wobei ich es genoss, diese wohlgeformte Muschel wie zufällig mit meinen Lippen zu berühren.
»Nein, das ist es ja, worauf ich hinaus will. Jochen arbeitet ständig daran. Er isst nur ungesundes Zeug, künstlich Hergestelltes, achtet auf den Inhalt von möglichst umstrittenen Konservierungsstoffen, meidet jedes Vollkorn. Er raucht schachtelweise filterlose Zigaretten, joggt im Ozon und setzt seine Haut stundenlangen Sonnenbädern aus. Bisher hat nichts gefruchtet. Wenn es ihm gut geht, ist er unglücklich.«
Ich bestaunte den Unglücksraben, der mir gerade den Rücken zukehrte, sonnengebräunt und nur ein klein wenig übergewichtig.
»War er denn schon mal beim Arzt?«
»Klar, Krebsvorsorge!«
»Und? Besteht Verdacht?«
»Ach was! Der Arzt sagte ihm, er sei kerngesund.«
Alex zog die Schultern hoch. »So ein Krebs braucht seine Zeit. Das kann Jahrzehnte dauern.«
»Wie viele Jahre lang treibt er das schon?«
»Seit elf Jahren.«
»Unglaublich!«
»Ja, es ist frustrierend für ihn. Aber er lässt sich nicht entmutigen. Eines Tages, meint er, wird es soweit sein und dann will er seine Krankheit so richtig ausleben.«
Jochens Lebens-Sterbens-Geschichte fesselte mich. Zum ersten Mal lernte ich einen Menschen kennen, der sich regelrecht nach einer tödlichen Krankheit verzerrte. Dabei sah Jochen richtig gesund aus. Ich beobachtete meine Gäste, wie selbstverständlich sie sich bewegten und unterhielten, als wäre das Bestreben, das sie allesamt vereinte, das Ziel eines Schäferhundvereins. Ihre Vertrautheit, ihre Verschworenheit untereinander, machte mich neidisch. An diesem Abend schienen sie mir alle derart über Leben und Tod stehend, dass ich das Gefühl bekam, ihnen auch etwas Besonderes präsentieren zu müssen. Ich wollte endlich richtig dazugehören, mich für heute wenigstens ein einziges Mal aus dem Abseits komplett in ihre Mitte begeben.
»Ich werde aus einem Riesenrad springen!«, sagte ich deshalb laut, damit es alle mitbekamen, und wartete gespannt auf ihre Reaktionen.
»Aus einem Riesenrad? Wie bist du denn darauf gekommen?«
Alex ließ vor Überraschung ein Stück Brot aus seinem Mund fallen. Immerhin entlockte ich meinen Gästen einiges Erstaunen. Anders jedoch, als ich erwartete, schienen sie gar nicht begeistert von meiner Idee. Franziska fixierte mich geradezu bemitleidend und Jochen ließ ein leises »Wie primitiv« verlauten. Irritiert versuchte ich, meine Idee zu verteidigen, denn so schlecht fand ich sie nicht. Was unterschied meinen Sprung aus einem Riesenrad denn schon von einem Sprung aus einem Flugzeug ohne Fallschirm oder von einer Brücke?
»Aus einem Riesenrad zu springen erfordert schon etwas!«, entrüstete ich mich. »Allein schon das richtige Ausbalancieren, ohne dass die Gondel nach hinten abdriftet und man dadurch auf die falsche Stelle aufschlägt, ist akrobatisch!«
Das wusste ich genau, seit meiner Übung auf der Matratze meines Bettes und den nervenaufreibenden Träumen. Es war Kevin, der mir dieses Mal zu Hilfe kam.
»Ich nehme an, sie hat ein besonderes Verhältnis zu Riesenrädern«, philosophierte er.
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