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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Swartz
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dieser Machtkampf zwischen Mutter und Tochter noch lange nicht entschieden ist, aber dann nimmt die Mutter die Tochter resolut an der Hand, um sie aus dem großen Zimmer zu entfernen und in dem kleinen ins Bett zu bringen.
    Jetzt soll der Onkel gehen, sagt das Kind zum Abschied.
    Allein am Tisch zurückgeblieben, schätzt der Mann sich glücklich, selbst keine Kinder zu haben. Hätte er ein Kind gehabt, dann wäre es jetzt bedeutend älter als dieses, von dem man nicht wissen kann, ob es mit den Jahren sein Benehmen bis zu dem Grad bessern wird, dass es dann, irgendwann in der Zukunft, nicht länger eine Belastung ist, welche die Aussichten der Mutter, jemals wieder zu heiraten, verschlechtern würde.
    Und doch hat dieses einfältige Kind in all seiner Mittelmäßigkeit dieser Frau (was vielleicht für jede Frau gilt) eine Richtung und eine Aufgabe verliehen, die der Mann sich jedes Mal wünscht, wenn er wieder einen Tag vertan hat, überzeugt davon oder zumindest in der Hoffnung, unendlich viel Zeit vor sich zu haben, während diese Frau (wie vielleicht alle Frauen) den Tag angeht, als wäre sie in einer Apotheke und wüsste genau, wofür und wie viel davon abgewogen werden muss und in welcher Tüte das Abgewogene landen soll.
    So hatte ein solches einfältiges, mittelmäßiges Kind sie gerettet, indem sie es als ihre Aufgabe betrachtete, es zu retten, während der Mann ohne Richtung und ohne andere Aufgabe war, als sich gegen seinen vollständigen Untergang zu wehren, eine Aufgabe, der er sich jedoch nur halbherzig gewidmet hatte, da sie ihm sinnlos oder zumindest egoistisch erschien; aber wenn eine solche Richtung und Aufgabe ausgerechnet ein Kind erforderte, wäre der Mann bereit gewesen, lieber unterzugehen.
    Was es bedeutete, unterzugehen, hatte er sich nicht richtig klargemacht. Doch hatte er jedenfalls so viel verstanden, dass die Zeit nicht auf seiner Seite war. Die Freundin, durch deren Vermittlung dieses Treffen zustande gekommen war, hatte beim letzten Mal, als er die Stadt besuchte, zu ihm gesagt, er brauche eine Brille; sie hatten in einem Gartenlokal auf der Insel unter der alten Brücke über den Fluss gesessen, zur Mittagszeit an einem sonnigen und hellen Frühlingstag. Die Freundin hatte Eis gegessen.
    Eine Brille? Dieser Hinweis hatte den Mann zuerst eher überrascht als verletzt, ihn schließlich aber doch irritiert, aber ohne Rücksicht auf seine Irritation hatte die Frau wiederholt, dass er eine Brille brauche, das sei daran zu erkennen, wie er die Zeitung hin und her bewege, während er sie las.
    Plötzlich hatte die Freundin gefragt, wie alt er sei, und auf die Antwort des Mannes hin konstatiert, dass er sich binnen eines halben Jahres eine Brille anschaffen müsse. Das hatte sich als richtig erwiesen; der Mann hatte vor einer Woche seine erste Brille ausgesucht; wenn er von dieser Reise heimkehrte, würde er sie beim Optiker abholen.
    Schon davor hatte er allmählich graue Haare im Badezimmerspiegel bemerkt; erst an den Schläfen das eine oder das andere und dann mehrere in den Bartstoppeln, später in den Augenbrauen. Sie waren leicht zu beseitigen gewesen, und im Übrigen gab es nichts Besonderes festzustellen, obwohl seine Freundin in dem Gartenlokal nicht nur Ansichten über die Brille gehabt, sondern auch gesagt hatte, es sei Zeit für ihn, er müsse endlich anfangen, richtig zu leben.
    Damals hatte der Mann dem keine Bedeutung zugemessen, kaum begriffen, was sie sagte und warum, er hatte es eher als Einladung verstanden, als hätte sie mit dieser Ermahnung, zu leben anzufangen, sich selbst anbieten wollen, wie eine Hure, hatte der Mann gedacht, es aber nicht gesagt.
    Zu leben anfangen?
    Aber sein Leben war reich, ohne aufreibende Beziehungen und zerstörerische Verliebtheiten, und mit reich meinte er dennoch gerade seine Kontakte zu Frauen. Sie waren nicht weniger als früher, und dass die Frauen heute oft in Gesellschaft eines Kindes kamen, hatte er zuerst als reinen Zufall betrachtet, als Fügung oder Pech, bis er eingesehen hatte, dass die Kinder mehr mit ihm selbst zu tun hatten, genauer gesagt, mit der Zeit, die für sein Teil nicht mehr als unendliche Ressource existierte, oder, um es präziser auszudrücken, eine Ressource, die offenbar anfing, von den immer zahlreicheren grauen Haaren verbraucht zu werden, welche bald in seinem Schopf, bald in seinem Gesicht auftauchten, ebenso wie von der Brille, die er am Montag beim Optiker abholen sollte, und als der Mann nun allein am Tisch

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