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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Swartz
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zeichneten, war auch nicht ungewöhnlich, und der wilden Unordnung der slunjschen Wasserfälle entspricht auf der Leinwand die dilettantische Pinselführung; der Mann kann sehen, wie das Wasser mal hier- und mal dorthin fließt, so dass ein unwissender Betrachter wohl nicht besonders erstaunt wäre zu erfahren, dass dieses Reich, das diese Stadt und diese Wasserfälle einmal vereint hatte, vor bald hundert Jahren aufgehört hat zu existieren.
    Aber das war natürlich ein absurder Gedanke. Kein Reich geht deshalb unter, weil es schlecht gemalt oder abgebildet wird, ebenso wenig wie gute Gemälde solche Imperien am Leben erhalten könnten. Aber je länger der Mann nachdenkt, umso unsicherer fühlt er sich in dieser Sache.
    Für den, der die Augen offen hält, gleicht dieses Zimmer einer Vorratskammer, wo das, was nicht mehr in Gebrauch ist, verwahrt wird. Auch das bewirkt, dass der Mann sich hier heimisch fühlt. Man denke etwa an das Gemälde mit seinem strömenden Wasser oder die Blumentöpfe mit ihren verschrumpelten, staubigen Palmen, den dunkel gebeizten Esstisch mit dem nachlässig gespülten Silberbesteck, die Madonna aus Porzellan oben auf der Kommode, einen an die Wand genagelten Fächer und – auf einem Piedestal – einen Vogelkäfig mit einem hellgelben Kanarienvogel. Auch der Vogel in seinem Käfig erscheint dem Mann eher wie ein Gegenstand als wie etwas Lebendiges, als ein Teil der Einrichtung, die dem Raum seine nostalgische Gemütlichkeit verleiht.
    Doch all diese Objekte scheinen zu einer anderen Zeit zu gehören, die in diesem Raum ausschließlich von Dingen verkörpert wird, welche in der Gegenwart keinen rechten Platz haben. Mit den heutigen Menschen und ihrem Leben in dieser Stadt hat das nichts zu tun.
    Ob ein lebendiges Wesen wirklich so viel Vergangenheit auf einmal aushalten kann?
    Dabei denkt der Mann an die Frau, nicht an den Kanarienvogel. Aber dieser Gedanke ist eigentlich eher eine Beobachtung als etwas, das mit Denken zu tun hat, sondern mehr damit, dass er meint, viel besser verstanden zu haben, was in der Stadt vorgeht, als die Frau, die immerhin darin wohnt, die Frau, die noch nicht auf seinem Schoß sitzt, sondern immer noch ihm gegenüber am Tisch: denn solange ein Raum wie dieser in der Stadt existiert, kann man nicht von dramatischen Veränderungen reden, die in kurzer Zeit hätten eintreffen sollen.
    Die Wasserfälle von Slunj liegen da, wo heute der Staat Kroatien ist. Ganz unten am Rahmen des Gemäldes befindet sich eine vergoldete Plakette, auf welcher der Name des Werkes (»Die Wasserfälle von Slunj«) eingraviert ist. Der Mann weiß zufällig, dass ein zu seiner Zeit sehr berühmter österreichischer Schriftsteller einen Roman mit demselben Namen wie dieses Ölgemälde geschrieben hat, ist aber beinahe sicher, dass die Frau nichts davon weiß, nicht einmal den Namen des österreichischen Schriftstellers kennt. Für diese eigentlich unbegründete Annahme, die nicht gerade vorteilhaft für die Frau ist, schämt er sich ein wenig, aber nicht besonders lange.
    Das Bild ist in dumpfen Farben gemalt, in dunklen Schattierungen von Grün, Blau und Schwarz, eine Farbgebung, die das Motiv an der Wand düster, fast symbolisch schicksalsträchtig macht. Nicht einmal das reichliche Vorkommen von fließendem, klarem Wasser kann viel an dieser Sache ändern. Die Wasserkaskaden, die mit großer Kraft auf dem oberen Teil der Leinwand hervorsprudeln, um sich am unteren über Klippen und zwischen Klüften hinunterzustürzen, scheinen sich ihren eigenen Weg zu bahnen, bevor sie in der Tiefe empfangen werden. Als Abbildung macht so viel Wasser auf einmal einen ungeschickten Eindruck; auf halbem Wege scheint der Maler den Faden verloren zu haben, der Pinsel und die Farben haben ihn im Stich gelassen, so dass dem Mann klar ist, dass dieser ihm unbekannte Amateurmaler – vermutlich ein Landvermesser oder Offizier – sich in keinerlei Hinsicht mit dem der Frau höchstwahrscheinlich völlig unbekannten Schriftsteller messen kann, was die Behandlung desselben Motivs betrifft.
    Was für ein schönes Bild, sagt der Mann.
    Ja, antwortet die Frau.
    Für einen Augenblick zögert sie. Soll sie ihm erzählen, dass sie vor bald zehn Jahren zusammen mit ihrer gemeinsamen Freundin dieses Bild auf einem Flohmarkt gefunden hat? Billig war es auch. Doch die Frau will so wenig wie möglich über die Freundin sprechen und zieht es daher vor, nicht zu antworten. Wenn es nach ihr geht, hat sich die Freundin als

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