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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Swartz
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besteht aus einem sehr großen Raum, einer kleinen Küche und hinter der Küche einem viel kleineren Zimmer für die Tochter. Dieses Kind hat weder die Freundin noch die Frau erwähnt; die Frau hat also eine minderjährige Tochter, die an diesem Abend schon schläft. Dass sie nicht von dem Kind erzählt hat, irritiert den Mann, und er fragt sich, ob er den ganzen Weg hierher umsonst zurückgelegt hat.
    Die Mutter der Tochter ist frisch geschieden, aber das erfährt der Mann erst, nachdem die Flasche Rotwein am Tisch in dem sehr großen Raum geleert ist und die Frau draußen in der Küche noch eine halb ausgetrunkene Flasche sauren Weißwein gefunden hat, die ebenfalls geleert wird, so dass die Frau kurz darauf auf seinem Schoß sitzt.
    Durch den Stoff des Kleides hindurch kann er die Wärme ihres Schoßes spüren, und seine Hand, die linke, befindet sich bald unter dem Kleid zwischen ihren Schenkeln, wo es noch wärmer ist und tief drinnen feucht, eine Feuchtigkeit, die wie die Wärme von dem Körper und der Einsamkeit der Frau erzeugt wird, und dem Mann geht ein nur zur Hälfte gedachter Gedanke durch den Kopf, der damit zu tun hat, wer die Tochter zu Bett gebracht haben mag und wann, aber die Hand übernimmt wieder, die linke Hand hat keine Verwendung für einen Kopf mit Gedanken, und mit feuchten Lippen, schwarz vom Wein, versucht der Mann etwas in das Ohr der Frau zu murmeln, Worte mit allzu eindeutigem Sinn oder Worte ohne jeden Sinn, doch fast sofort gibt er auf und beißt sie stattdessen vorsichtig ins Ohr.
    Au, sagt die Frau. Du darfst mir nicht weh tun.
    Aber dies geschieht erst später.
    Davor haben sie etwa eine Stunde lang jeder auf einem Stuhl gesessen und Schinken und Tomaten mit großem, nachlässig gespültem Silberbesteck gegessen, und während die Frau davon erzählt hat, wie dramatisch das Leben in der Stadt sich verändert hat und – höchst erstaunlich – innerhalb so kurzer Zeit, ist der Mann mehr damit beschäftigt gewesen, sich in dem Raum umzusehen.
    Er wird dominiert von einem großen Bett mitten im Zimmer und einem Gemälde an der Wand hinter der Frau. Das Gemälde, ebenfalls sehr groß, stellt die Wasserfälle von Slunj dar. Der Mann ist sehr zufrieden damit, dass er das Motiv fast sofort erkennt; diese Stadt mag ihm fremd sein, fast unzugänglich, aber von dem großen und seit langem untergegangenen Reich, zu dem die Stadt ebenso wie diese Wasserfälle einmal gehörten, glaubt der Mann mehr zu wissen als die allermeisten, die heutzutage in den provisorischen Resten dessen leben, was damals ein und dasselbe Staatsgefüge gewesen war.
    Das Gemälde bewirkt, dass der Mann sich in diesem Raum sofort heimisch fühlt. Es erscheint ihm wie eine heimliche Verbindung mit einer Vergangenheit, die ihm vertraut ist. Zugleich sagt es etwas Schmeichelhaftes auch über diese Frau, scheint das Beste an ihr hervorzuheben, so wie die kunstvolle Fassung einer Brosche eine Perle oder einen Edelstein hervorhebt. Der Mann will gern glauben, dass das Gemälde in der Familie der Frau vererbt wurde. Das Motiv ist ja kaum eins von denen, bei dem sich behaupten ließe, es gehöre zur Menschheit wie die Gondeln auf den Kanälen von Venedig, ägyptische Pyramiden oder höfische Schriftgelehrte im Frühling in einem chinesischen Garten. Solche Gemälde kann man überall finden, ohne dass es etwas bedeuten muss oder einen überrascht; aber diese Wasserfälle in einem Teil der Welt, von dem kaum jemand (außer dem Mann) etwas gehört hat, sind der Menschheit vollständig unbekannt, und nicht einmal als reine Natur betrachtet etwas, das sich mit den Niagarafällen messen könnte.
    Wie sollten die Wasserfälle von Slunj hier anders gelandet sein als über den Weg der Familie der Frau und des Reichs, das es nicht mehr gibt?
    Der Mann weiß nicht viel mehr von der Frau, als was ihre gemeinsame Freundin auf den Touristenstadtplan geschrieben hat, den er in der Tasche trägt, aber das Gemälde an der Wand scheint ihm viel mehr zu sagen als was er schwarz auf weiß besitzt. Ein Verwandter der Frau war vielleicht einmal als Militär in Slunj stationiert gewesen. Oder dorthin abkommandiert worden, mit einem Sonderauftrag auf Rechnung des untergegangenen Reichs, und hatte sich als Landvermesser, Ingenieur oder Bezirksrichter in dieser schönen, aber öden Gegend vermutlich unwohl gefühlt.
    Von den Militärs und Landvermessern der damaligen Zeit weiß der Mann, sie mussten zeichnen können. Dass sie in ihrer Freizeit

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