Notluegen
welche die Spruchbänder an Stangen tragen, können sie nur mit Mühe im Wind aufrecht halten; und erst auf dem Weg hinunter zum Medborgarplatsen murmelt der Mann eine Art Entschuldigung, es sei spät geworden, er habe keine Zeit mehr, verabschiedet sich von der Frau und rettet sich hinauf aufs Trottoir, wie wenn ein Ertrinkender sich mit seinen allerletzten Kräften an einen abgebrochenen Mast oder eine Planke klammert, die zufällig vorbeischwimmt.
Schon ein, zwei Tage nach diesem Treffen, von dem der Mann meint, dass es einen kläglichen Abschluss gefunden hat, öffnet er einen neuen Brief von der Frau, in dem er liest, dass er sich durch seinen schnellen Abschied »klug wie ein Pudel« verhalten hat. Am Medborgarplatsen habe sich die Polizei auf die Demonstranten gestürzt, sei mit Schlagstöcken auf sie losgegangen, mein Oberarm ist immer noch geschwollen und blaurot, schreibt die Frau, die Polizei habe die Demonstranten fotografiert und von allen vorübergehend Festgenommenen eine Legitimation verlangt. Erst danach seien sie freigelassen worden.
Der Mann legt den Brief weg. Er vermutet, dass das, was die Frau geschrieben hat, ironisch gemeint ist, und fühlt sich deshalb gekränkt. In diesem Pudel erkennt er sich nicht wieder. Ein Pudel kann ihn trotz seiner entfernten Ähnlichkeit mit einem Löwen nicht vergessen machen, dass es sich doch immer noch um einen Hund handelt.
Der Mann hätte sich gern mit einem anderen Tier vergleichen lassen. Aber mit welchem? Er überlegt. Die Tiere, die ihm zuerst einfallen, sind alle groß und gefährlich: mit Fell, scheu und gefleckt, mit scharfen Zähnen zum Blecken. Aber ungeachtet dessen, was der Mann bei ihrem allerersten Treffen über Stärke und Geduld zu der Frau gesagt hat, wird er jetzt bald Pelz, Zähne und Klauen zugunsten von unansehnlicheren Tieren aufgeben.
Das deutet auf Scharfblick und Selbsterkenntnis hin, und der Mann ist mit sich zufrieden. Je kleiner die Tiere, umso heimischer fühlt sich der Mann in ihrer Gesellschaft. Das Minimum an Aufrichtigkeit, das er sich schuldig ist, verlangt, dass er beginnt, unter denen, die sich in den zoologischen Gärten mit einem Verschlag oder Glaskäfigen abseits vom Interesse des großen Publikums begnügen müssen, nach einem Tier zu suchen, das zu ihm passt. Dort werden die Tiere oft ihrem Schicksal überlassen, unbemerkt in ihrer melancholischen Existenz. Man könnte behaupten, sie vegetierten eher dahin als dass sie lebten, träge und fast regungslos, selten auch nur dazu in der Lage, sich selbst zu stören. Aber gerade dort im Abseits, denkt der Mann, müsse sich sein Tier befinden.
Und er spinnt seinen Gedankengang weiter: Die politischen Überzeugungen und Vorhaben dieser Frau sind ihm zwar fremd, eigentlich völlig gleichgültig, aber da alles, was damit zu tun hat, mit ihrem Interesse rechnen kann, müssen Brandrodungen in Afrika, die künstliche Bewässerung von Wüsten, die eingebundenen Füße chinesischer Frauen und so weiter zu dem werden, wofür auch er sich interessiert, genau wie ein Chamäleon seine Farbe wechselt, um sich seiner Umgebung anzupassen.
Trotzdem ist sein Erstaunen groß, als die Frau anruft und ihn zu sich nach Hause einlädt. Sie wohnt in dem Teil der Stadt, von dem der Mann zu wissen meint, dass die Busse rund um die Uhr überfüllt sind und betrunkene Männer an Straßenecken stehen und versuchen, gestohlene Konversationslexika zu verkaufen. Es ist Dienstag, schon spät am Nachmittag, und die Frau hat dem Mann zu verstehen gegeben, dass sie am Abend mit etwas anderem beschäftigt ist, was keinen Aufschub duldet. Nur an diesem späten Nachmittag hat sie Zeit für ihn.
Als er sich einfindet, öffnet die Frau ihm im Bademantel, ein Frottéhandtuch um den Kopf gewickelt: Sie erklärt, sie habe sich gerade die Haare gewaschen. Die nassen Füße der Frau hinterlassen Spuren auf dem Boden. Der Mann vermutet, dass die Haarwäsche mit ihrem Abendprogramm zu tun hat.
Ohne zu fragen, hat die Frau ihm schon einen Tee gekocht, obwohl er selten Tee trinkt, eigentlich nur, wenn er krank ist. Lieber hätte der Mann ein Bier getrunken. Aber jetzt trägt die Frau ein Tablett mit einer Teekanne und zwei Tassen herein und verlässt dann den Raum wieder. Der Mann vermutet, dass die Wohnung aus diesem einzigen Zimmer und vielleicht einem Schlafalkoven besteht. In diesem Zimmer bleibt er allein mit dem Teetablett sitzen. Vielleicht gibt es in der Wohnung auch ein Badezimmer, aber vermutlich doch nur
Weitere Kostenlose Bücher