Notluegen
betrogen. Er hätte sich nicht fotografieren lassen sollen. Aber jetzt ist es zu spät, er würde sich nur lächerlich machen, wenn er von der Frau verlangen würde, ihm die Filmrolle zu geben.
Stattdessen muss der Mann damit rechnen, dass dieses Foto künftig für einen Zweck benutzt wird, den er nicht kennt, der aber für ihn begreiflicher wäre, wäre irgendetwas an diesem Nachmittag geschehen. Aber nichts anderes ist geschehen, als dass die Frau ihn auf ihrem Balkon fotografiert hat. Der Mann hat noch nicht einmal seinen Tee ausgetrunken, und jetzt will er die Frau und ihre Wohnung so schnell wie möglich verlassen.
Wenig später, es ist noch nicht fünf Uhr, sitzt der Mann in dem Bus, der ihn von den Höhen der Südstadt übers Wasser in seinen Teil der Stadt bringen wird. So schnell wie möglich möchte er diesen Nachmittag vergessen. Unten an der Skeppsbron überlegt er, ob nicht doch etwas geschehen sei, ob die Frau ihn nicht benutzt hat. Noch unten auf der Skeppsbron kommt er darauf, dass »missbrauchen« wohl das Wort ist, das besser als »benutzen« wiedergibt, was vielleicht doch geschehen ist, ein Wort mit schärferem, anklagenderem Klang.
Am Norrmalmstorg bleibt der Bus an der Haltestelle stehen, und als die Türen sich öffnen, wird welkes Laub hereingeblasen, vermischt mit Kindergeschrei von dem Platz, bevor die Türen sich mit einem Seufzer wieder schließen und der Bus weiterfährt, und dem Mann kommt in den Sinn, dass Kinder in diesem Teil der Stadt oft genauso laut sind wie in der Südstadt. Daran hat er bisher nie gedacht.
Aber auf dem Weg vom Norrmalmstorg zum Stureplan erscheint ihm die bevorstehende Revolution sehr fern, als etwas, das nur die Stadtteile südlich vom Slussen betrifft, und wenn er genauer nachdenkt, kommt es ihm unwahrscheinlich vor, dass die Frau ihm noch weitere Briefe schreiben wird. Als der Bus den Stureplan erreicht, ist er sicher, dass er seinen letzten Brief bekommen hat. Dieser Gedanke überrascht ihn, aber schnell und seltsam leichten Herzens nimmt er ihn an.
Danach fragt sich der Mann, aus welchem Stoff die Erinnerungen bestehen und wie lange das Geschehene braucht, um sich feste Konturen und einen Platz unter jenen zu verschaffen, die schon im Bewusstsein gespeichert sind. Bis der Bus den Odenplan erreicht hat, ist er immer noch nicht darauf gekommen.
Jetzt bin ich bald zu Hause, denkt der Mann.
Früher, sagt er sich, entstand eine Erinnerung erst, wenn etwas Gewichtiges eingetroffen war und dann vom Herzen seinen Weg zum Kopf fand.
Oder vielleicht den Weg vom Kopf zum Herzen? Wie auch immer: als wenn ein vierblättriges Kleeblatt in ein Buch gelegt wird, das man ins Bücherregal stellt und erst viele Jahre später wieder öffnet, und von irgendwoher da zwischen den Seiten fällt etwas Verblasstes und Vertrocknetes heraus.
So viel ließ sich jedenfalls damals über diese Sache sagen. Aber fast am Odenplan angekommen, sieht der Mann ein, dass das schon sehr lange her ist, dass eine Bildersprache, die sich auf Bücher und vierblättrige Kleeblätter stützt, doch einem anderen Jahrhundert angehört, vielleicht dem neunzehnten oder sogar dem achtzehnten Jahrhundert, und dass in einer modernen Zeit wie der unseren mit Fotografien und Filmrollen aus Zelluloid alles ganz anders sein muss.
An das erste Halbjahr neunzehnhundertachtundsechzig erinnerte sich die Frau fast Tag für Tag. Damals war die Zeit knapp und wollte nicht für alles reichen, was geschah. Obwohl die Tage damals kamen und gingen wie gewöhnlich, hatten alle sich gewünscht, sie wären zahlreicher und länger. Aber die Tage waren kurz und nicht zahlreicher als gewöhnlich. Die Nächte hingegen hatten völlig überflüssig gewirkt. Schon bevor die Nacht vorbei war, war ihr der nächste Tag auf den Fersen, und schlaftrunken war die Frau jeden Morgen aus dem Bett gesprungen, um nichts von dem zu verpassen, was dieser neue und doch allzu kurze Tag zu bieten haben würde.
Aber nach der Invasion am einundzwanzigsten August desselben Jahres war sehr bald überhaupt nichts mehr geschehen. Alles war vorbei oder nahm ein Ende. Nur Zeit gab es jetzt im Überfluss; ein Tag glich dem anderen. Eintönig könnte man ein solches Dasein zu Recht nennen, und die Erinnerungen der Frau an diese Zeit waren so spärlich, dass ihr schien, als ob viel weniger Jahre auf die Invasion gefolgt waren, als es tatsächlich der Fall war. Wie hatte es dazu kommen können? Ein Jahr hat ja doch dreihundertfünfundsechzig Tage oder
Weitere Kostenlose Bücher