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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Swartz
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mehr, die nicht einfach verschwinden können.
    Aber sie waren verschwunden. Fast zwanzig Jahre waren wie ausgelöscht oder verwandelten sich in eine Art Presssülze aus Glockenschlägen, Feier- und Arbeitstagen, Tagen, die einfach gekommen und gegangen waren, und was die Frau damals getan oder nicht getan hatte, dessen war sie sich unsicher und erinnerte sich nur in Bruchstücken daran. Nicht einmal das, was sie in dem einen oder anderen Jahr in ihren Kalender geschrieben hatte, war besonders hilfreich. Eigentlich hätte das, was sie da mit Bleistift notiert hatte, genauso gut aus dem vorhergehenden oder dem folgenden Jahr stammen können, oder, strenggenommen, aus jedem beliebigen Jahr in dieser Zeit. Viel später (obwohl sie nicht genau wusste, wann) würde sie sich diese Tage als in einen graugestreiften, feuchten, aber dennoch ganz angenehmen Nebel gehüllt vorstellen, obwohl die Zeitungen wie eh und je erschienen waren und manchmal sogar über etwas anderes als das Wetter schrieben. Das Leben war trotzdem weitergegangen, man konnte es nicht anders sagen, obwohl sich dieses Leben nach dem Spätsommer neunzehnhundertachtundsechzig irgendwo anders abspielte als in Prag – mit all seinen Merkwürdigkeiten, von welchen die Frau wohl nichts gewusst hätte, wenn sie diese nicht gelegentlich in Schwarzweiß auf dem Fernsehschirm hätte vorbeiflimmern sehen. Sowohl Prag als auch sie selbst hatten nicht mehr teil an alledem, obwohl nicht leicht zu sagen war, was sich eigentlich verändert hatte. Das allermeiste war nicht anders als zuvor. In der Oper wurde nicht schlechter gesungen als vorher. Die roten und gelben Straßenbahnen hielten sich einigermaßen an die Fahrpläne, Blumen welkten, ältere Herren hoben den Hut, wenn sie sich begrüßten, in den Cafés verzehrten die Damen immer noch Kuchen, Aufzüge fuhren in den Häusern auf und ab, die Pension wurde am selben Tag im Monat ausgezahlt wie vor der Revolution, jemand ermordete seine Mutter mitsamt Kanarienvogel, es wurde Bier getrunken, Pech war üblich und Sonnenfinsternisse so selten wie immer.
    Nur die Hunde waren zahlreicher und dicker als früher. Wenn die Frau nachdachte, traf das vielleicht auch auf die vielen Würste in den Läden zu.
    Die richtig große Veränderung galt ausschließlich der Zeit selbst. Erst viel später würde die Frau erkennen, warum. Während dieser Jahre nach neunzehnhundertachtundsechzig musste es ganz einfach zu viel Zeit gegeben haben, so dass sie in Kalendern und Almanachen keinen Platz mehr fand, nicht einmal im Leben der Menschen selbst, eine Zeit, von der eine um Aufrichtigkeit bemühte Person sagen musste, dass sie seit neunzehnhundertachtundsechzig für überhaupt nichts Besonderes mehr verwendet wurde, als ginge sie jetzt niemanden mehr etwas an.
    Aber woher dieser Überfluss von nutzloser Zeit eigentlich kam, wusste die Frau nicht und auch sonst niemand.
    Einen großen Teil dieser Jahre musste sie zu Hause verbracht haben, ohne sich zu erinnern, warum oder was sie da getan hatte, und so war es Winter und wieder Sommer geworden. Eine Jahreszeit war auf die andere gefolgt. Die Jahre waren vergangen. Später hatte die Frau oft das Gefühl gehabt, bei dem, woran sie sich trotz allem erinnerte, gar nicht dabeigewesen zu sein, ein sonderbares und manchmal sogar beunruhigendes Gefühl, als hätten die Erinnerungen einer anderen Person als ihr selbst gehört.
    Sie wusste aber auch nicht, wer das hätte sein können.
    War eigentlich überhaupt etwas mit ihr geschehen? Was hatte sie in diesen fast zwanzig Jahren erlebt, und wer war sie gewesen? Auch in den Zeitungen stand in jener Zeit nicht sehr viel mehr, als dass es in der Hauptstadt und vor allem in den westlichen Teilen des Landes oft schneite oder regnete. Unannehmlichkeiten dieser Art war man regelmäßig ausgesetzt, und dagegen war nicht viel zu machen. Hingegen blieb der Preis für Kohl unverändert. Vielleicht stieg er auch, oder er fiel, aber nur innerhalb der Grenzen des Belanglosen, und die Frau hatte auch dies festgestellt und den Preis der Kohlköpfe mit der Nachbarin diskutiert. Also hatte sie bald aufgehört, die Zeitungen zu lesen, obwohl jeder Tag genau wie früher mit einer nagelneuen Zeitung anfing, auch wenn man nicht wusste, für wen sie eigentlich gebraucht wurde; in die ausgerissenen Zeitungsblätter packte man auf dem Markt Rote Bete, Kartoffeln oder Lauch.
    Der kleine Vorrat an Erinnerungen, den die Frau von der Zeit nach der Invasion gesammelt hatte,

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