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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Swartz
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hatten schon im Herbst alle dasselbe gesagt: Im Frühjahr wird es besser. Im Winter hatten alle gesagt, schlimmer als im Herbst kann es nicht werden. Als es Frühling geworden war, begann man, auf den Sommer zu hoffen. Im Sommer aber hatte man vergessen, was man im Herbst über den Frühling gesagt hatte. Auch was man im Frühling erhofft hatte.
    Diese schon von Anfang an vage und unbestimmte Hoffnung, es müsse doch langsam besser werden, hatte die Frau mit der Zeit eher gequält als getröstet. Trotzdem hatte sie sich nicht davon trennen wollen. Viele Jahre später war sie immer noch vorhanden, aber sie hatte sich in etwas verwandelt, was die Frau eher als eine chronische Krankheit betrachtete, allerdings von der Art, die sich nur selten in Erinnerung bringt, oder als ein Gebrechen, das man vor anderen zu verbergen trachtet.
    Jedenfalls, sagte sie sich, war ihr Leben nach der Invasion im Spätsommer neunzehnhundertachtundsechzig intimer geworden. Zwar musste sich dieses Leben mit weniger Raum begnügen als zuvor, aber es war von einer Art Wärme und Vertraulichkeit umhüllt, unangenehm konnte man es jedenfalls nicht nennen. Auch ihr Mann war oft zu Hause. Viel netter als während der Abende zu Hause konnte er vermutlich nicht werden. Immer öfter spielte sich das Leben der Frau in einer der Straßenbahnen, in einem Garten, in einem Kartoffelkeller, in einer Warteschlange, zu Hause in der eigenen Küche oder bei einem ihrer Freunde ab.
    Diese neue Intimität hatte mit Wänden zu tun. Der Frau kam es so vor, als mache der Mangel an Raum die Nähe (und nicht nur die physische) eines solchen Beisammenseins viel intensiver, sogar reicher; als hätte sich diese gemeinsame Zeit mit den Nächststehenden durch Umstände, die außerhalb ihrer Kontrolle lagen, zu einer Innigkeit gesteigert, dass man in einem solchen Raum fast von Glück reden konnte, obwohl er ihr manchmal eher wie eine Zelle erschien.
    Vor der Invasion hatte die Frau sehr selten mit anderen zusammen in einer Küche gesessen, für solche Zusammenkünfte war damals keine Zeit gewesen. Stattdessen war man immer irgendwo auf der Straße unterwegs, alle hatten es eilig gehabt. Erst nach der Invasion hatte niemand mehr Eile, und bald hatte sich die Küche mit Tabakrauch und Worten gefüllt. Die Männer redeten viel öfter und ausführlicher als die Frauen. Was sie damals gesagt hatten, war ihr schon entfallen, und deshalb war sie sich ziemlich sicher, dass es um Politik gegangen war. Sie glaubte dennoch zu wissen, dass in diesen Gesprächen, oftmals Monologen, sehr wenig, wenn überhaupt etwas enthalten war, das des Bemerkens oder Berichtens wert gewesen wäre, nichts von allgemeinem oder privatem Interesse, und dass ihr Mann dennoch genau dies getan hatte – sich das Gesagte merken, um es später zu berichten –, sollte sie, als sie es später erfuhr, fast genauso sehr erstaunen wie empören.
    Dessen hatte er sich also schuldig gemacht: sich in aller Stille zu merken und zu berichten, was die anderen gesagt und fast sofort wieder vergessen hatten. Jahrelang hatte der Mann den Auftrag gehabt, Erinnerungsbilder in ein Album zu kleben, auf denen die anderen sich selbst nur mit Mühe erkannt hätten.
    Einer ihrer Freunde, der damals eine ganze Menge geredet hatte (wenn er nicht kochte oder rauchte), war etliche Jahre später durch etwas, was die Frau – trotz der Gerechtigkeit, die dem Leben offenbar auf diese Weise abverlangt worden war – nur »die Umstände« nennen konnte, fast direkt aus dem Gefängnis ins Schloss hoch oben auf der Kleinseite übergesiedelt, wo er anfangs so weiterlebte wie vor der Gefangenschaft, also weiter rauchte und schrieb und die Schenkel der Frauen betatschte, aber auch eine Menge Zeit darauf verwendete, eigenhändig die Uniformen der Schlosswache neu zu entwerfen, und zwar in großer Dankesschuld gegenüber der Bühnenkunst, besonders der Operette, sich außerdem Ratgeber auf Rollschuhen hielt und mehr Rockmusiker als Politiker ins Schloss bat, und als ihm schließlich klar wurde, dass er doch jemanden brauchte, der sich um die zahllosen Flaschenöffner, Korkenzieher, Klobürsten und so weiter kümmerte, erinnerte er sich an diese Freundin in einer dieser Küchen von damals, diese Frau aus einer sogenannten guten Familie, schon von Kindheit an mit Messern, Gabeln, Löffeln vertraut und damit, in welcher Reihenfolge die Gläser vor dem Teller stehen sollen, etwas, was ihr von keinem größeren Nutzen war, solange die Kommunisten in

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