Notluegen
enthielt vorwiegend Privates. Kaum der Rede wert. Es ging um völlig unbedeutende Dinge. Es kam vor, dass sie sich für diese Selbstsucht schämte, und dafür, dass ihr Leben im Licht solcher Erinnerungen so dürftig wirkte. Aus den Monaten vor der Invasion erinnerte sie sich dagegen ausschließlich an das, was groß und dramatisch gewesen war; es waren Erinnerungen, die sie mit den meisten anderen Menschen in diesem Land teilte, und sie erfüllten sie mit Stolz, mit einem Gefühl, dass ihr Leben doch einen Sinn hätte.
Aber nach der Invasion und noch viele weitere Jahre konnte die Frau nichts von dem, was sie erlebte, mit jemand anderem teilen, obwohl das, was ihr zu dieser Zeit widerfuhr, jedem Beliebigen in Prag hätte widerfahren können.
Zum Beispiel erinnerte sie sich an ein blaues Kleid, das sie nach stundenlangem Schlangestehen gekauft hatte. Und an die Wärme im Haus, wirklich nicht der Rede wert! Die Frau erinnerte sich auch an feuerrote zerrissene Wolken am Himmel, eine schriftliche Vorladung von der Polizei, einen Tag mit bleicher Sonne ohne Wärme unter rauschenden Baumwipfeln, einen entfernten Verwandten, der plötzlich verstorben war (und den sie nie gemocht hatte), und wenn sie sich wirklich Mühe gab, auch daran, wie sie mit ihrer Mutter gestritten hatte, oder an einen heftig wirbelnden Schneeschauer an einem Februarmorgen vor der Haustür, fast wie eine Staubwolke, nur in Weiß.
Tatsächlich gab es nichts mehr, was sie betroffen oder überrascht hätte, auch nicht, dass der Dozent im dritten Stock, ein richtiger Doktor, mittlerweile selten das Haus verließ und sich um den Heizkessel und den Keller kümmerte, statt zur Universität zu gehen. Aber er grüßte sie genauso freundlich wie zuvor.
»Und die liebe Frau Mama? Bitte grüßen Sie sie von mir!«
Nichts davon war ihr wichtig genug erschienen, um es sich wirklich zu merken.
War sie glücklich gewesen?
Die Frau zögerte. Glück hatte sie sich, zumindest solange sie jung war, als eine köstliche Wiederholung des Immergleichen vorgestellt, als einen Zustand, in dem die Zeit selbst abgeschafft oder ausgelöscht wäre, als einen Zustand, in dem man keine Erinnerungen brauchte. Aber gerade die Jahre, die auf die Invasion gefolgt waren, hatten die Frau davon überzeugt, dass ein solches Leben außerhalb der Zeit nicht unbedingt etwas mit Glück zu tun haben musste.
Trotzdem fragt sie sich manchmal, ob nicht die allererste Zeit mit ihrem Mann glücklich genannt werden könne, gerade weil sie sich an so wenig erinnert. Diese erste Zeit der Ehe ist im Gedächtnis der Frau aufbewahrt wie ein Fotoalbum ohne Bilder, hier und da gibt es Reste von Kleister oder vergilbten Kleberändern auf den Seiten, aber nicht mehr. Wo sind die Bilder geblieben? In manchen Augenblicken meint sie, sie zu vermissen. Aber bald war eine Zeit des Streits und der gezielten Bosheiten gekommen, an die sie sich nur zu gut erinnerte, und statt solche Bilder einzukleben, zog sie es vor, auch die wenigen Momente zu vergessen, in denen ihr Mann dem Menschen ähnelte, den sie einmal hatte heiraten wollen, lange bevor ebendiese Ehe sie von der Notwendigkeit einer Scheidung überzeugt hatte.
Nein. Glücklich war sie kaum gewesen.
Doch es ließ sich nicht leugnen, sie hatten sich beide Mühe gegeben. Auch ihr Mann. Manchmal hatten sie zusammen Ausflüge gemacht, nach Terezín oder Litomeˇrˇice, einmal mit dem Zug nach Bratislava. Es war Herbst gewesen und die Ernte schon eingebracht. Vom Zug aus hatten sie kahle Felder gesehen, die jetzt verlassen waren, Felder voller braungelber Stoppeln, wie bei einem Strafgefangenen, dem man den Kopf rasiert hat, hatte ihr Mann gesagt.
Über diese Bemerkung hatten beide gelacht und dann wieder zum Fenster hinausgesehen. Rasierte Felder. Auf halbem Weg nach Bratislava waren sie hungrig geworden und hatten sich einen Apfel geteilt; der Mann hatte die Frucht mit einem kleinen Taschenmesser geschält und aufgeschnitten.
Als Glück würde die Frau einen solchen Ausflug jedoch nicht bezeichnen. Aber dass sie direkt unglücklich gewesen wäre, war ihr auch nicht in Erinnerung. Wenn die Frau zu beschreiben versuchte, wie ihr Leben während der Jahre nach der Invasion ausgesehen hatte, fielen ihr Worte wie Flucht oder Sorglosigkeit ein. Allerdings schienen diese nicht viel miteinander zu tun zu haben, denn einen Flüchtling ohne Sorgen konnte man sich schwer vorstellen.
Trotzdem fielen ihr keine besseren Worte ein.
Nach der Invasion im August
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