Notruf 112
Angst: »Kérem, segítsen nekem! Kérem, segítsen nekem!«
Was für eine Sprache ist das?
Schon macht sich in mir diese gefürchtete Hilflosigkeit breit, mit der alle Disponenten in den Einsatzzentralen dieser Welt zuweilen zu kämpfen haben. Du bist so weit weg vom Einsatzgeschehen, willst und musst natürlich helfen und hast doch das schreckliche Gefühl von Machtlosigkeit.
So ergeht es auch mir in dieser Nacht.
Neuer Versuch auf Englisch. Weil doch die meisten Menschen zumindest ein paar Worte in dieser Sprache verstehen: »Madam, please. We will help you. Wir werden Ihnen helfen. Do you speak english? Sprechen Sie Englisch?«
Null Reaktion. Sie scheint mich nicht zu verstehen. Stattdessen hat sie nun einen Weinkrampf, schluchzt und schreit mit sich ständig überschlagender Stimme: »Kérem, segítsen nekem! Kérem, segítsen nekem!« Im Hintergrund hört man dumpfes Poltern. Es klingt, als ob jemand gegen eine Tür schlägt. Ist sie etwa eingeschlossen?
Meine Sprachkenntnisse sind nicht gerade berühmt. Aber diese Sprache glaube ich schließlich doch zu erkennen. Ich hatte in Jugendtagen ein Faible für Historienfilme, speziell die aus der österreichisch-ungarischen k. u. k. Monarchie. Wenn mich also nicht alles täuscht, dann spricht diese Frau Ungarisch. Aber wo ist sie? Was ist geschehen? Ist sie ernsthaft in Gefahr?
In unserem Informationssystem des Einsatzleitrechners sind die Namen aller Sprachtalente in unseren Reihen hinterlegt. Aktuell haben wir Kollegen, die Englisch, Französisch, Italienisch, Polnisch, Russisch, Schwedisch, Türkisch, Spanisch, Tschechisch und – Hurra! – Ungarisch sprechen. Die Sache hat nur einen Haken: Wenn wir mal unsere hauseigenen Dolmetscher brauchen, sind die oft nicht greifbar. So ist es auch in diesem Fall. Unter der Nummer unseres Ungarnspezialisten meldet sich nur die Mailbox. Rückfrage auf der Wache. Der Kollege hat Urlaub. Mist!
Und noch immer wissen wir nicht, was der völlig verängstigten Frau am anderen Ende der Leitung eigentlich fehlt. Also nächster Versuch: In der Leitstelle haben wir die Möglichkeit zur sogenannten Wachdurchsage. Das bedeutet: Wir lassen einen Rundruf an alle los. In sämtlichen Räumen aller Münchner Feuerwachen – auch in den Ruheräumen – hören die Kollegen nun meine Stimme: »Hier spricht die Leitstelle. Wir suchen dringendst jemanden, der Ungarisch spricht oder uns einen Ungarisch sprechenden Dolmetscher vermitteln kann. Bitte unbedingt sofort melden! Ich wiederhole: …«
Weil Wachdurchsagen dieser Art eher selten sind, weiß jetzt jeder diensthabende Kollege, dass das ein Ernstfall ist. Und tatsächlich: Keine 20 Sekunden später klingelt mein Telefon. Ein Kollege meldet sich: »Ich spreche selbst zwar kein Ungarisch, aber ich habe im letzten Sommer Urlaub in Ungarn gemacht. Unser Pensionswirt spricht sehr gut Deutsch. Ich rufe ihn gerade nebenher schon an.« Super!
Kurz darauf steht die Dreiertelefonkonferenz zwischen München und dem Plattensee, wo der freundliche ungarische Pensionswirt gern bereit ist, mitten in der Nacht Dolmetscherdienste für uns zu verrichten.
Und so erfahren wir, was unserer verzweifelten Patientin widerfahren ist. Sie heißt Viola, ist 21 Jahre alt, lebt allein im Münchner Stadtteil Ramersdorf, ist in der Nacht von einem ihr bekannten Mann vergewaltigt worden und fühlt sich extrem bedroht. Der Täter ist nämlich noch in der Wohnung. Sie hat sich mit ihrem Handy im Bad eingeschlossen und fürchtet, er könne jeden Moment die Tür eintreten. Die Situation ist also überaus dramatisch.
Sehr geschickt versteht es der Pensionswirt im fernen Ungarn, unserer traumatisierten Patientin zumindest ein paar Basisinformationen und vor allem ihren Aufenthaltsort zu entlocken. In ihrer Angst ist der zutiefst gedemütigten jungen Frau kein Wort Deutsch mehr eingefallen und sie hat nur noch auf Ungarisch die Worte »Polizei«, »Vergewaltigung« und die flehentliche Bitte »Bitte helft mir!« herausgebracht. Das Gespräch mit dem Landsmann scheint sie ein wenig zu beruhigen und ihr Sicherheit zu geben. Sie schreit jetzt nicht mehr, schluchzt aber herzzerreißend. Der Mann scheint mittlerweile die Wohnung verlassen zu haben.
In solch einer Situation ziehen sich die Minuten hin wie Stunden. Die Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Mir klebt schon das Hemd am Leib. Keine zwei Minuten später sind Rettungsdienst und Polizei auf dem Weg zu ihr. Ich höre, wie der Ungar am Telefon beschwichtigend auf die
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