Notruf 112
dem Sofa mutieren zu fremden Gästen, die einfach nicht mehr gehen wollen. Und selbst harmloses Kinderspielzeug birgt ungeahnte Gefahren. Mit Logik ist da nichts zu machen. Also versetzen wir uns besser in die Lage derer, für die diese Bilder nun mal beängstigende Realität sind.
»Die Feuerwehr. Der Rettungsdienst. Grüß Gott!«
»Hier spricht Frau Herzog aus Haidhausen. Bitte helfen Sie mir. Ich weiß nämlich nicht, was ich jetzt machen soll.«
Ihre Stimme ist die einer hochbetagten Seniorin. Dünn wie Pergamentpapier. Sie ist sicherlich schon jenseits der 80 Jahre, vielleicht sogar schon 90 Jahre alt.
»Aber gern. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Im Flur hinter meiner Wohnungstür liegt ein Teddybär.«
»Ah ja. Den hat Ihr Enkelchen sicherlich dort liegen lassen, ja?«
»Ich habe keinen Enkel. Ich habe überhaupt niemanden mehr. Alle in meiner Familie haben diese Welt schon längst verlassen. Und ich weiß nicht, wie der Teddybär da hingekommen ist.«
»Tja. Das weiß ich natürlich auch nicht. Sie könnten ihn ja mal aufheben …«
»Ich trau mich nicht.«
»Wieso nicht?«
»Er könnte vielleicht explodieren …«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Na ja, man sieht doch so vieles im Fernsehen, was da immer alles explodiert auf der Welt …«
Ach herrjeh. Die Ärmste.
»Also, Frau Herzog. Ich schlage vor, wir heben den jetzt mal zusammen auf. Ich bleibe am Telefon und wir gehen jetzt zu dem Teddybären.«
»Nein, ich möchte das nicht. Der schaut mich so an.« Ihre Stimme zittert ängstlich. Ich kann und will die alte Dame zu nichts zwingen, was ihr Angst einjagt. Also lieber eine neue Taktik.
»Haben Sie vielleicht einen netten Nachbarn?«
»Ja, unsere Hausmeisterin, die Frau Isic gegenüber, hilft mir manchmal. Und ihr Mann hat mir neulich sogar das Waschbecken repariert.«
Na bitte. Das ist unser Mann.
»Ich schlage vor, Sie klingeln mal bei der Familie. Die werden Ihnen helfen.«
»Ja, wenn Sie meinen … Moment bitte …«
Ich kann hören, wie sie den Schlüssel an ihrer Wohnungstür innen zweimal umdreht. Die Vorlegekette rasselt. Dann höre ich das Klacken mehrerer Riegel. Frau Herzog scheint wie sehr viele ältere Menschen in der ständigen Angst zu leben, dass jemand bei ihr eindringen könnte.
Am Telefon kann ich verfolgen, wie sie Herrn Isic das Bärchenproblem erklärt.
»Der Herr von der Feuerwehr hat gesagt, Sie helfen mir.«
»Aber ja, Frau Herzog, ich schau gleich mal nach.« Ich sehe ihn förmlich nachsichtig lächeln. Er scheint die alte Frau Herzog ganz gut zu kennen. Sie ruft ihm noch zu: »Seien Sie bloß vorsichtig!«
Schritte auf dem Flur. Und dann höre ich seinen überraschten Ausruf: »Aber Frau Herzog, da liegt ja gar kein Teddybär. Das ist Ihre braune Jacke, sehen Sie?«
»Ach du meine Güte. Ja, wenn das so ist. Ich danke Ihnen recht schön. Und entschuldigen Sie bitte, Herr Isic.«
Und zack, die Verbindung wird unterbrochen – mich hat sie wieder vergessen. Sie hat einfach aufgelegt.
Ich kenne das Viertel und die Straße, in der Frau Herzog lebt. Im Geiste sehe ich eine alte Frau in einem alten Mietshaus zurückkehren in ihre alte Welt. Ich habe oft solche Wohnungen alleinstehender Senioren während meiner aktiven Rettungsdienstzeit gesehen. Riesige Altbauwohnungen, oft fünf oder sechs Zimmer, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Hier lebte einst das betuchte Münchner Bürgertum. Das Leben einer ehemals großen Familie – jetzt nur noch konserviert in Möbeln, Fotos, Bildern und staubigen Erinnerungsstücken, deren Geschichten niemand mehr kennt. Nur noch aufbewahrt von den letzten Lebenden wie Frau Herzog. Wenn sie die Augen für immer schließt, wird wohl der Trödler oder bestenfalls ein Antiquitätenhändler kommen. Die Erinnerungen ihres langen Lebens werden schon bald in alle Winde zerstreut oder vernichtet sein. Die Geschichte einer großen Familie – für immer ausgelöscht. Was bleibt? Vielleicht nur noch ein Grab auf dem Ostfriedhof, an dem schon bald niemand mehr weint.
Ich sitze ein wenig melancholisch da und überlege mir, wie ich wohl denken, fühlen und meine Umwelt wahrnehmen werde, falls ich jemals so alt werden sollte wie Frau Herzog. Ist das überhaupt erstrebenswert? Ich weiß es wirklich nicht.
Ententage
In frostigen Winternächten haben die Münchner Bäche, Flüsse und Seen die überraschende Eigenschaft, in großen Teilen relativ schnell zuzufrieren. Die wilden Tiere in der Stadt und die unzähligen
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