Notruf 112
Frau einredet, dann vernehme ich ein Klingeln. Sie legt den Hörer hin, schließt die Tür auf. Ich kann vor meinem inneren Auge förmlich sehen, wie sie den Kollegen unendlich erleichtert und am ganzen Leibe zitternd in die Arme fällt. Armes, armes Mädchen. Zumindest ist Viola nun in Sicherheit und in guter medizinischer und psychologischer Betreuung. Ich danke dem freundlichen Ungarn und auch unserem geistesgegenwärtigen Kollegen sehr und beende das Telefonat.
Ich weiß nicht, was aus Viola geworden ist. Ich hoffe aber, dass der Kerl, der ihr das angetan hat, im Knast sitzt. Er wird eines Tages wieder frei sein. Viola dagegen bleibt für den Rest ihres Lebens eine Gefangene ihrer bösen Erinnerung. Mich packt die blanke Wut, wenn ich daran denke.
Der ehrenwerte Herr Feldmann
Ich glaube fest an das Gute in den Menschen. Könnte ich daran nicht mehr glauben, dann wollte ich hier nicht länger arbeiten. Und ich bin nach wie vor – allen Unkenrufen zum Trotz – fest davon überzeugt, dass die große Masse der Bürger dieser Stadt quer durch alle Generationen und Gesellschaftsschichten im Falle eines Notfalls nicht wegschauen würde. Nach meiner Erfahrung scheint es sich eher um große Unsicherheit zu handeln, wenn Menschen in Notsituationen falsch oder auch gar nicht reagieren: Ich weiß nicht, ob ich das kann. Mein Erste-Hilfe-Kurs ist schon so lange her. Was ist, wenn ich was falsch mache? Kann ich dann zur Verantwortung gezogen werden? Solche Fragen habe ich schon oft gehört und konnte diese Sorgen stets zerstreuen. Falsch ist nur, nichts zu unternehmen. Außerdem stehen wir den Laienhelfern, wenn nötig, auch am Telefon bei.
Die Ausnahme bestätigt aber bekanntlich die Regel. Und ausgerechnet solch ein Exemplar mit ausgeprägtem Gleichgültigkeitssyndrom kommt an einem trüben Winternachmittag als Erster zu einem schweren Unfall im Landkreis München.
Von der Stimme her schätze ich ihn auf etwa 60 Jahre. Typ hart arbeitender, erfolgreicher Manager oder Geschäftsmann. Erfolgsgewohnt. Selbstsicher. Beherrscht und kühl. Exzellentes Hochdeutsch. Der guten Gesprächsqualität nach zu urteilen, meldet er sich über die Freisprechanlage einer großen Limousine.
»Die Feuerwehr. Der Rettungsdienst. Grüß Gott!«
»Grüß Gott, Feldmann mein Name. Ich befinde mich auf der Bundesstraße 11 zwischen Baierbrunn und Schäftlarn. Kurz vor dem Ortseingang Schäftlarn hat sich ein roter Kleinwagen überschlagen. Er liegt neben der Straße auf dem Dach im Feld.«
»Brennt das Fahrzeug?«
»Nein. Jedenfalls hat es vorhin noch nicht gebrannt. Aber es lag jemand daneben. Das wollte ich Ihnen nur mitteilen.«
Beeindruckend präzise Beschreibung. Und trotzdem stört mich diese ungewöhnlich emotionslose Art, in der er einen Notruf absetzt. Im gleichen Ton würde er wohl Socken kaufen oder Rührei mit Speck und Tomaten bestellen.
»Wie viele Verletzte sind es? Können Sie Erste Hilfe leisten, Herr Feldmann?«
»Das ist schlechterdings unmöglich.«
Sage ich doch, komischer Typ.
»Wieso ist das nicht möglich?«
»Weil ich mich nicht mehr am Unfallort befinde.«
Bitte?? Kann es wirklich wahr sein, dass der Mann einfach weitergefahren ist? Ich spüre, dass mein Puls steigt, zwinge mich zur Ruhe, schicke nebenher einen Rettungswagen und die Polizei auf die Reise und verständige die Einsatzzentrale München-Land, die wiederum die nächstgelegene Freiwillige Feuerwehr informiert. Klingt ein bisschen umständlich und ist es auch. Aber so ist das in München nun mal geregelt.
Zurück zum Anrufer. Ich versuche krampfhaft, meine Stimme zu entschärfen.
»Es wäre sehr wichtig für uns, wenn Sie dort bleiben und uns einige Angaben über den Zustand der Patienten machen könnten, Herr Feldmann.«
»Es tut mir leid. Ich habe leider keine Zeit mehr. Ich habe Termine einzuhalten.«
Tief in meinem Inneren spüre ich diesen bösen kleinen Knoten aufsteigen, der jeden Moment explodieren kann. Was denkt sich der Mann eigentlich? Das hier ist doch kein Börsenspiel. Hier geht es um Menschenleben. Tief durchatmen. Nächster Versuch.
»Herr Feldmann, ich kann Sie natürlich nicht zwingen. Ich bitte Sie aber, am Unfallort zu bleiben. Wir sind bereits unterwegs. Sie müssten wirklich nicht lange warten.« Und setze den Satz im Geiste wütend fort: »Es könnten allerdings deine eleganten Straußenlederschuhe, dein Kaschmirmantel und deine manikürten Palmolive-Händchen schmutzig werden, du Blödmann.«
Und schon fange ich mir
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