Notruf 112
Restaurant sind von dem Feuer völlig unbehelligt geblieben und der Weihnachtsrummel läuft ungestört weiter.
Ich glaube heute noch, dass dieser kleine Vorsprung von wenigen Minuten das große alte Haus gerettet hat. Hinter der Verkleidung im Dachstuhl hatte sich das Feuer nämlich bereits bis ins Dach ausgebreitet, was der Arbeiter nicht bemerkt hatte. Noch ein paar Minuten länger – und der gesamte Dachstuhl wäre wohl nicht mehr zu retten gewesen. Mit unabsehbaren Folgen für eine der berühmtesten Locations Münchens. Ich habe oft darüber nachgedacht, was wohl passiert wäre, wenn ich den Arbeiter nicht dazu überredet hätte, dass sich die Feuerwehr lieber selbst ein Bild von der Lage macht. Ich hätte mir wahrscheinlich ewig Vorwürfe gemacht.
Buchstabenrätsel
Es ist ein Sonntag im Winter, früher Morgen kurz vor dem Schichtwechsel um sieben Uhr. Ein Notruf vom Handy. Eine Adresse ist nicht zuzuordnen. Ich verstehe kein einziges Wort von dem, was der Anrufer in türkisch-deutschem Kauderwelsch und offensichtlicher Verzweiflung in den Hörer schreit. Aber ich höre seine Angst. Und dann höre ich noch etwas, das mich augenblicklich elektrisiert: Knistern und Krachen. Geräusche, die jeder Feuerwehrmann sofort erkennt. Der Mann hält sich offenbar in der Nähe eines Brandes auf, möglicherweise sogar in einem brennenden Raum. Vielleicht seine Wohnung, ein Büro, eine Werkstatt. Und er spricht nicht viel Deutsch.
»Adresse – sagen Sie mir Ihre Adresse!«
»Ei...ei...hei...stass!«
»Ich verstehe Sie nicht. Die Straße. Sagen Sie mir doch die S-t-r-a-ß-e! Wo sind Sie?«
Er gibt sich die größte Mühe.
»Eih…en...st...strass.«
»Ganz ruhig. Noch mal. Wie – heißt – die – Straße?«
»Ei...eien...astrass.«
Keine Chance. So kommen wir nicht weiter.
Ich sehe mich um. Haben die anderen Kollegen Brandmeldungen entgegengenommen? Fehlanzeige. Bei Bränden melden sich meist innerhalb kürzester Zeit sehr viele Anrufer. Zehn, 20 Notrufe gleichzeitig sind in solchen Fällen gar nicht ungewöhnlich. In diesem Fall jedoch ist kein einziger anderer Anruf gekommen. Hat dieser Mann tatsächlich keine Nachbarn? Es scheint so.
Für solche Fälle haben wir im Abfragesystem ein Auswahlfenster, das es uns erlaubt, Straßennamen in Fragmenten zu suchen. Zu dritt hören wir nun mehrmals die Kurzzeitaufzeichnung des Gesprächs ab und einigen uns auf die wenigen Silben und Buchstaben, die wir sicher zu verstehen glauben. Also gebe ich – getrennt durch Prozentzeichen als Platzhalter – in die Suchmaske ein:
»%ei%st%a%str«.
Nach wenigen Sekunden kommt die Vorschlagsliste. Und die ist verdammt lang: Es gibt 13 Straßen in der Stadt und im Landkreis, in der diese Buchstabenkombination vorkommt. Von Bürgermeister-Hartmann-Straße bis Weihenstephaner Straße. Allesamt unaussprechliche Zungenbrecher für Menschen, die nicht Deutsch sprechen.
Zurück zum Anrufer, der mittlerweile den Tränen nahe ist und zunehmend panisch »Kommen schnell!« ruft. Das Prasseln und Knacken im Hintergrund ist lauter geworden. Seine Aufregung beginnt sich auch auf mich zu übertragen. Ich zwinge mich zur Ruhe und lese ihm langsam und deutlich die Liste der infrage kommenden Straßen vor: »Bürgermeister-Georg-Hiltmaier-Straße?«
Null Reaktion. Stattdessen hustet er jetzt heftig.
»Bürgermeister-Straub-Straße?«
»No, no.«
»Einsteinstraße?«
»Nix versteh …!«
So geht das immer weiter.
Und dann Straße Nummer 13, die letzte:
»Weihenstephaner Straße?«
»Jaja! Jaja!« Endlich ein Treffer. Aber schon haben wir das nächste Problem. Diese Straße gibt es nämlich zweimal, und zwar im Stadtgebiet München selbst und in der Landkreisgemeinde Unterschleißheim. Da wir keine Zeit mehr zu verlieren haben, setzen wir vorsichtshalber unsere eigenen Einsatzkräfte in Gang und informieren zugleich die Landkreiszentrale, die immer noch eine eigene Feuerwehr-Einsatzzentrale für die Freiwilligen Feuerwehren betreibt. Im Münchner Stadtteil Berg am Laim werden wir kurz darauf fündig.
Es handelt sich um ein mittlerweile in Vollbrand stehendes Zimmer in einer einfachen Unterkunft, abseits der Straße im Hinterhof gelegen. Das ist die Erklärung dafür, dass die Nachbarn davon zunächst nichts mitbekommen haben.
Sein Zimmer und sein Hab und Gut können wir dem türkischen Arbeiter leider nicht mehr retten, wohl jedoch sein Leben. Er hat bei erfolglosen Löschversuchen allerdings bereits Brandwunden an den Händen und
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