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Notruf 112

Notruf 112

Titel: Notruf 112 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Seifert , Christian
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scheint zu rauchen. Seine letzte Zigarette? Das hier ist ein Albtraum. Und niemand wird mich aufwecken und sagen: Hey, nur ein blöder Traum …
    Ich atme auch tief ein und aus. Und weiter: »Ich verstehe dich sehr gut. Aber ich hoffe doch, dass du …«
    »Lass es gut sein, Christian. Ich will ja nur nicht, dass meine Süße mich da baumeln sieht. Sie soll mich nicht so finden, wenn sie von der Arbeit kommt heute Abend. Darum rufe ich euch an. Also: fünfter Stock, rechts. Ich lass die Tür auf, damit ihr mir nicht noch das Schloss zerlegt. Okay?«
    »Okay. Aber Didi, hör mir noch mal eben zu …« Mit welchem Recht, verdammt noch mal, zieht er mich in sein unabwendbares Unglück hinein? Wenn es mir gelänge, ihn noch etwas hinzuhalten … Ich starre auf den Statusbildschirm und hoffe, dass sich die Farben der alarmierten Kräfte von Dunkelrot (Status 3, auf der Anfahrt) zu Hellrot (Status 4, am Einsatzort angekommen) verändern. Ich schaue den Kollegen fragend an: Alles am Laufen? Der Kollege hebt den Daumen. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Ich versuche es noch einmal.
    »Didi, warte mal. Möchtest du deiner Frau nicht noch ein paar Zeilen schreiben? Geh nicht einfach so. Schreib ihr auf, was dir wichtig war in eurem Leben. Lass sie nicht einfach so ohne Antworten zurück. Hast du eigentlich Kinder?«
    Die letzte Frage beantwortet er mir nicht.
    »Alles längst passiert, Alter. Liegt schon alles auf dem Tisch. Testament, Ausweis, Brief. Alles, was man so braucht, um in Deutschland ordnungsgemäß zur Hölle zu fahren.«
    Und er lacht wieder sein bitteres Lachen. Mir stellen sich die Haare auf, das hier ist der blanke Horror. Und dann räuspert er sich. Seine Stimme, vorhin noch weich, klingt jetzt sehr entschlossen.
    »Also, dann mach’s mal gut, Kumpel. Ich mach’s kurz. Danke, dass du mir zugehört hast. Und jetzt: schönes Leben noch.«
    Das Telefon wird ab-, aber nicht aufgelegt. Als ob er in den letzten Sekunden seines Lebens doch nicht allein sein will. Und ich weiß: Jetzt ist es vorbei. Ich kann ihn nicht aufhalten. Er ist keiner von denen, mit denen man noch um den Wert des Lebens feilschen könnte. Ich springe auf, werfe jede professionelle Distanz über Bord und rufe: »DIDI! DIDIII!! WARTE MAL. MACH JETZT KEINEN FEHLER. NICHT …«
    Ich höre Schritte. Tritte auf einer klappernden Aluleiter. Eins, zwei, drei, vier. Nein! Bitte tu’s nicht! … Und dann scheppert plötzlich etwas blechern zu Boden. Die Leiter! Er hat die Leiter umgetreten! Mein Herz rast, mein Magen zieht sich zusammen. Er hat es getan. Ich höre ihn würgen. Und dann splittert Holz, gefolgt von einem dumpfen Schlag. So hört sich das an, wenn ein Körper aus größerer Höhe zu Boden fällt. Vielleicht besteht noch Hoffnung. Vielleicht hat das Seil rechtzeitig nachgegeben. Vielleicht …
    Die Rückmeldung der Kollegen macht alle meine Hoffnungen zunichte. Didi hatte das Seil um das Geländer der Empore in seinem ausgebauten Dachgeschoss geschlungen. Die hölzerne Geländerstütze ist unter seinem Gewicht gebrochen. Aber das hat ihn nicht mehr gerettet. Der Notarzt kann nur noch seinen Tod feststellen. Bis zu der niederschmetternden Krebsdiagnose ist Didi ein beliebter und ziemlich erfolgreicher Wirt im Viertel gewesen. Er ist noch nicht einmal 50 Jahre alt geworden.
    Ich sitze da wie betäubt, spüre eine Hand auf meiner Schulter. Der Kollege muss gar nicht sprechen. Ich weiß auch so, was er mir sagen will: »Hol dir mal ’nen Kaffee, und dann geht’s weiter. Wir sind schließlich Profis.« Sind wir?
    Ich wanke hinaus. Eigentlich habe ich dafür gar keine Zeit. Denn das Notruftelefon läutet ständig weiter und ich habe ein schlechtes Gewissen den Kollegen gegenüber, die nun meine Arbeit mitmachen müssen.
    Ich hole mir schnell einen Kaffee, starre gedankenverloren in den Hof. Didi liegt jetzt tot in seinem Dachboden. Sicher ist die Polizei schon da. Und dann geht es ab ins Kühlfach. Vor ein paar Minuten hat er doch noch gelebt. Hat geraucht, mit mir gesprochen und sein bitteres Lachen gelacht …
    Ich würde jetzt gerne rausgehen, einmal quer durchs Münchner Westend schlendern, meine Gedanken sortieren, den Kindern beim Spielen und den ganz normalen Menschen bei ihren ganz alltäglichen Verrichtungen zusehen. Und dann vielleicht meine Frau anrufen. Sie arbeitet auch in einer Einsatzzentrale. Sie würde mich verstehen.
    Doch das unbarmherzige Schichtsystem lässt solche Extratouren nicht zu. Denn wir sind schon seit Jahren

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