Notruf 112
Partner soeben bewusstlos zusammengebrochen ist oder dessen Kind nicht mehr atmet – der weiß, dass sich solche Menschen an überhaupt kein System halten können. Sie haben Angst oder Schmerzen, sind in Panik, verwirrt, verzweifelt oder stehen unter Alkohol- oder Drogeneinfluss. Und schon biegen wir ab von der schönen breiten Straße der Norm und galoppieren über die Dörfer. Für uns würde das bedeuten, mit dem Cursor kreuz und quer durch die Eingabemaske zu springen, um sämtliche notwendigen Fakten für den Einsatz zusammenzubauen.
Solche Anrufer brauchen keinen Abfragekatalog, sondern einen Menschen an ihrer Seite, der mit Herz, Hirn und eisernen Nerven in der Lage ist, die Situation richtig einzuschätzen, die notwendigen Informationen abzufragen und die richtige Art Hilfe auf den Weg zu schicken. Nicht der Bürger entscheidet, was er bekommt, sondern ausschließlich der dafür ausgebildete Disponent. Andernfalls hätten wir in der Millionenstadt in ziemlich genau zehn Minuten keinen einzigen unserer zwölf ständig bereitstehenden Notärzte mehr zur freien Verfügung, weil Menschen in akuten medizinischen Notfällen – verständlicherweise – immer nach dem Notarzt schreien. In den allermeisten Fällen genügen jedoch unsere ausgebildeten Rettungsassistenten, sehr häufig auch die Ärzte des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes. Intuition, Fachwissen und natürlich gute Nerven zeichnen einen fähigen Disponenten aus. Das ist der Grund, warum ein Schema niemals den Menschen und sein Bauchgefühl ersetzen wird.
Eine Auswertung unserer Statistik hat ergeben, dass wir auch ohne die SNA im Vergleich zu anderen Leitstellen unserer Größenordnung jedenfalls nicht mehr Fehlfahrten oder Notarztnachforderungen haben. Das ist der Beweis dafür, dass die Disponenten mit ihrer Einschätzung und Erfahrung fast immer richtig liegen.
Zuweilen stoßen allerdings auch Feuerwehrdisponenten an ihre nervlichen Grenzen – wie bei folgendem hochdramatischen Fall.
»Verstehste?«
»Die Feuerwehr. Der Rettungsdienst. Grüß …«
»Das kannst du dir sparen, mein Freund. Ich brauche keinen Rettungsdienst mehr. Hör mir mal zu. Uns bleibt nämlich nicht mehr so viel Zeit, verstehste?«
Nanu. Was wird das denn? Ich pirsche mich mal vorsichtig an.
»Verstehe.« Das ist natürlich eine glatte Lüge, denn ich verstehe nur Bahnhof: »Ich bin ganz Ohr: Worum geht es denn?«
»Heute ist Schluss für mich. Aus, Ende, Sense. Ich stehe schon auf der Leiter und über mir hängt der Strick. Es macht keinen Sinn, dass du mir jetzt noch die Feuerwehr oder eure Psychologen oder sonst wen auf den Hals hetzt. Verstehste?«
Mein Mund ist schlagartig trocken. Der Mann ruft vom Festnetz an, auf dem Display erscheint seine Adresse. Es handelt sich um ein großes, altes Mehrfamilienhaus in der Nähe des Gärtnerplatzes, mitten im Münchner Partyviertel. Fünf Stockwerke hoch, keine Tiefgarage. In diesem Viertel wohnen viele junge Leute – Studenten, Künstler, Szenetypen und auch diverse Prominente. Ich hebe die Hand, ein Kollege kommt sofort. Ein Blick auf mein Display genügt ihm: Suizid mit Notarzt, fragliche Wohnungsöffnung. Das reicht ihm, um im Hintergrund und ohne dass der Patient das bemerkt, Notarzt, Feuerwehr und Polizei – das volle Programm – zu alarmieren.
Ich versuche währenddessen, Zeit zu gewinnen, rede wild drauflos. Zeit schinden um jeden Preis.
»Würden Sie mir Ihren Namen sagen? Ich weiß doch gar nicht, wie ich Sie ansprechen soll.«
Er lacht. Es ist ein bitteres Lachen.
»Mein Name ist längst Geschichte. Denn kannste dir demnächst auf’m Ostfriedhof vom Grabstein abschreiben. Aber wenn du willst, kannste mich Didi nennen.«
Der meint es ernst, das spüre ich. Und ich bete zum Himmel, dass uns die Zeit reicht, dass die Kollegen fliegen. Ich versuche, irgendeine Art von Beziehung zu ihm aufzubauen, das Gespräch auszudehnen.
»Okay. Hallo, Didi. Ich heiße Christian. Du hast mich angerufen. Also hast du doch noch einiges zu sagen. Und ich hör dir zu.«
»Spar dir dein Psychogelaber. Ist nett von dir, aber du kannst mich nicht aufhalten.«
»Vielleicht aber doch? Gib mir wenigstens eine Chance, dir zu helfen.«
»Wie willst du mir denn helfen, du Clown? Ich habe Bauchspeicheldrüsenkrebs. Endstadium. Aus und vorbei. In ein paar Wochen stemme ich sowieso Gänseblümchen. Was jetzt noch kommt, das will ich nicht. Ich will nicht im Hospiz verfaulen. Verstehste?«
Ich höre ihn tief ein- und ausatmen. Er
Weitere Kostenlose Bücher