Notruf 112
Berufsfeuerwehr beginnt für uns an einem Donnerstagmittag mit dem Anruf eines Haustechnikers eines Altstadthotels. Ein Gast hat ihn gerufen – und zwar ins Bad seines Zimmers. Dort nämlich hat der Mann leise Hilferufe gehört, die aus der Wand zu kommen scheinen. Das kann sich der Gast überhaupt nicht erklären, denn neben seinem Bad ist gar kein Zimmer mehr.
Der Haustechniker steht also mit dem Gast im Bad und horcht gespannt an der Wand. Er klopft mit dem Werkzeug einen kurzen Takt an die Wand. Und bekommt Antwort: Tack, Tack, Tack. Er wiederholt sein Klopfzeichen. Und bekommt wieder Antwort! Weit, weit weg hört er ganz schwach Hilferufe. Es ist eindeutig. Da ist jemand eingesperrt. Der Haustechniker weiß, dass es in dem alten Haus stillgelegte Kamine gibt. Vom eigenen Keller und auch vom Keller des Nachbarhauses findet er aber keine Zugänge. Da steigt der Techniker schließlich aufs Dach und inspiziert die Sache nun von oben. An der Grenze zum Nachbarhaus macht er eine schier unglaubliche Entdeckung. Tief unter ihm ruft ein Mensch aus dem lediglich 60 mal 40 Zentimeter schmalen Kamin um Hilfe.
»Hallo! Hier! Hier unten!«
»Was machen Sie denn da?«
»Ich bin abgestürzt! Holen Sie mich raus!«
»Sind Sie verletzt?«
»Nein. Ich habe Durst!«
»Ich hole Hilfe. Ich bin sofort wieder da!«
Als Erste-Hilfe-Maßnahme lässt der Techniker zunächst eine Flasche Mineralwasser an einem langen Kabel zu dem Verunglückten hinab. Die Kabellänge misst er anschließend aus. So kann dieser außergewöhnlich überlegte Ersthelfer bereits beim Eintreffen der ersten Rettungskräfte sagen, dass unser Mann in einer Tiefe von genau 28 Metern festsitzt.
Mit Bohrhämmern versuchen die Kollegen von der nahen Hauptfeuerwache zunächst, ein Loch in die Wand zu stemmen. Chancenlos. Alles massive, dicke Mauern. Erstklassige Maurerarbeit. Sie finden keinen einzigen Hohlraum, durch den sie zum eigentlichen Kamin hätten durchstoßen können. Somit bleibt nach Rücksprache mit uns in der Leitstelle nur noch eine Lösung. Die Rettung von oben – mithilfe eines Hubschraubers und der Höhenretter der Berufsfeuerwehr, die speziell für alle möglichen Rettungs- und Hilfseinsätze in luftiger Höhe trainiert sind. Die Kollegen können sich schon mal mit dem Gedanken vertraut machen, sich kopfüber, mit den Füßen am Seil hängend, zu dem Mann im Kamin herablassen zu müssen. Darum habe ich die Kollegen nicht gerade beneidet. Das ist selbst für den nervenstärksten Höhenretter vermutlich eine echte Herausforderung.
Dass es so weit dann doch nicht kommt, ist dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass unser Mann im Kamin noch genug Spielraum hat, um sich die herabgelassene Rettungsweste allein anzuziehen.
Am Seil ziehen die Kollegen den Abgestürzten dann vorsichtig Meter für Meter aufs Dach. Zum Vorschein kommt schließlich der völlig erschöpfte und unendlich erleichterte 29-jährige Angestellte Michael K., der bis auf zahlreiche tiefe und stark verschmutzte Schürfwunden zumindest körperlich erstaunlich wohlauf ist. Allerdings hat er in seinem engen Verlies jedes Zeitgefühl verloren und ist sich sicher, mindestens 48 Stunden dort unten eingesperrt gewesen zu sein. Tatsächlich waren es zwölf – mit Sicherheit die schlimmsten und längsten Stunden seines jungen Lebens.
In Begleitung des Notarztes wird der Mann nun auf der Trage in den Rettungshubschrauber verfrachtet und sofort ins Krankenhaus geflogen. Michael K. hat unglaubliches Glück gehabt. Bis auf die zahlreichen tiefen Schürfwunden und eine starke Dehydrierung fehlt ihm nichts und er kann daher nach kurzer Beobachtungszeit auf der Intensivstation schon wieder auf die Normalstation verlegt werden. Noch am selben Abend darf ihn ein guter Freund besuchen. Mit vertrauten Freunden oder Angehörigen zu sprechen ist sehr wichtig für Menschen, die Todesängste ausgestanden haben.
Einige Tage später erfahren wir, was Michael K. in der Nacht seines Absturzes widerfahren ist. Er hat an jenem Mittwoch auf dem Oktoberfest mit Freunden kräftig gefeiert, seine Begleiter dann aber aus den Augen verloren. Den letzten Zug nach Hause – er wohnt außerhalb der Stadt – hat er verpasst. Außerdem ist er hundemüde. Er beschließt daher, bei einem Freund in der Altstadt zu übernachten. Er klingelt, doch der Freund ist noch nicht daheim. Da überlegt Michael, von außen über das Dach in die Wohnung zu gelangen. Eine Schnapsidee, die er bitter bereuen soll. Dabei kennt er
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