Notruf 112
nach unten, mindestens ein Drittel des Brustkorbdurchmessers. Herr Graumer atmet schwer.
»Ich habe Angst, dass ich ihr die Rippen breche. Atme, Lilli, bitte atme, verdammt noch mal … Herr im Himmel, hilf mir … Ich hoffe, ich mache das richtig …«
»Es ist das Beste, was Sie jetzt für Ihr Kind tun können, Herr Graumer. Und zählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Zählen Sie laut weiter. Ich bleibe bei Ihnen, bis der Notarzt da ist.«
Und er drückt. Und weint. Und zählt. Und betet. So vergehen sechs Minuten. Eine Ewigkeit für uns beide. Und auf einmal schreit er laut auf: »Sie hustet! Sie hustet! Gott sei Dank! Spuck’s aus, spuck alles aus, meine Kleine …«
Ich bin genauso glücklich und bestimmt nicht minder schweißgebadet als Vater Graumer. Kurz darauf landet der Münchner Kindernotarzt mit dem Rettungshubschrauber am Haus der Familie. Die Polizei übernimmt die Einweisung. Im Rettungswagen wird Lilli wenig später in der Begleitung des Kindernotarztes in die Klinik gebracht. Ihr Zustand ist stabil genug, sodass sie nicht mehr geflogen werden muss.
Unter weniger günstigen Umständen hätte man mit irreparablen Folgeschäden bei dem Kind rechnen müssen. In diesem Fall jedoch hatte die Rettungskette optimal funktioniert. Und so geschah ein kleines Wunder. Noch am gleichen Abend erwachte Lilli aus der Narkose, in die sie gelegt worden war, um sie noch eine Weile sicher beatmen zu können und dem kleinen Körper Gelegenheit zu geben, sich ein wenig zu erholen. Überglücklich schlossen die Eltern ihr kleines Mädchen in die Arme. Wenige Tage später wurde die Kleine nach Hause entlassen – völlig gesund und ohne die geringsten Folgeschäden.
Am nächsten Tag zog der Vater eigenhändig einen Zaun um den Teich. Eine sehr gute Entscheidung. Bitte, liebe Eltern, zieht Gitter um die Teiche, wenn ihr kleine Kinder habt.
Ich bin lange selbst als Rettungsassistent auf dem Kindernotarztfahrzeug gefahren, habe unsere kleinen Patienten oft zum Lachen gebracht, ihre Händchen gehalten, wenn sie weinten, und an der Seite der Arztes um manches Kinderleben gekämpft. Am schlimmsten Wachtag meines Lebens – es war ein Samstag im Hochsommer – haben wir drei kleine Kinder innerhalb weniger Stunden reanimiert. Zwei im Schwimmbad und eines an einem See. Alle waren ihren Eltern in einem unbewachten Moment beim Baden entwischt, ins Wasser gegangen und ertrunken. An einem Tag mit absoluten Hochbetrieb, inmitten Tausender Menschen. Das begreife ich bis heute nicht.
Wir konnten nur eines der drei Kinder ins Leben zurückholen. Die anderen beiden waren zu spät gefunden worden. Am Ende dieses schrecklichen Tages war ich am Ende, fühlte mich leer, wie betäubt. Körperlich und nervlich.
Seit jenem fürchterlichen Tag habe ich jedes Mal Angst, wenn meine beiden mittlerweile elf und 13 Jahre alten Kinder zum Schwimmen gehen. Selbst heute noch, nach all den Jahren.
Lebendig begraben
Allein schon der Gedanke an solch eine Situation bereitet mir Herzrasen. Und man muss wohl von außerordentlich guter körperlicher und psychischer Konstitution sein, um aus solch einer scheinbar ausweglosen Lage halbwegs unbeschadet wieder herauszukommen. Was passiert ist? Stellen Sie sich einmal vor, Sie stehen in einem engen, dunklen Schacht in einem Keller unter der Altstadt. Der Schacht ist so eng, dass Sie weder sitzen noch liegen und kaum die Arme bewegen können. Sie wissen, dass Sie von vielen Menschen umgeben sind. Aber die werden Sie nicht finden. Auch Ihre Freunde und Ihre Familie werden bald merken, dass Sie im wahrsten Sinne des Wortes wie vom Erdboden verschluckt sind. Doch das nützt Ihnen nichts. Weil niemand ahnen kann, in welch auswegloser Situation Sie sich befinden. Sie schreien sich die Seele aus dem Leib. Doch die alten Mauern ringsherum sind eineinhalb Meter dick. Ihr Handy ist leer. So stehen Sie viele Stunden hilflos da. Und schließen allmählich mit dem Leben ab. Und das Einzige, was Sie sehen können, ist ein winziger Ausschnitt Münchner Himmel – aber die Freiheit liegt unerreichbare 28 Meter hoch über ihrem Kopf.
Eine Geschichte wie aus den bösesten Albträumen des amerikanischen Schriftstellers Edgar Allan Poe, eines Meisters des subtilen Horrors. Und dennoch ist sie einem jungen Mann tatsächlich genau so passiert. Und zwar im Herzen der Millionenstadt München, zur schönsten Oktoberfestzeit im Herbst.
Einer der wahrscheinlich ungewöhnlichsten Einsätze in der Geschichte der Münchner
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