Notruf 112
und er nicht gleich das Bewusstsein verlor. Andernfalls hätten die beiden vermutlich nur eine sehr geringe Überlebenschance gehabt.
In der Klinik konnte sich Sven später übrigens an nichts mehr erinnern – weder an den Absturz noch an das Gespräch mit mir. Totaler Blackout. Gar nicht so selten nach traumatischen Erlebnissen oder so schweren Unfällen.
Die Bombe
In den Tagen davor war noch mit Presslufthämmern und Baggern auf diesem Baugrundstück im Herzen des alten Schwabings gearbeitet worden. Allein der Gedanke daran verursacht mir heute noch Herzrasen. Dort – umgeben von aufwendig sanierten Altbauten, zahllosen kleinen Geschäften und einer sehr lebendigen Kneipen- und Kleinkunstkultur – ruhte im Erdboden hinter der berühmten Münchner Freiheit ein rostiges Geheimnis, das im August des Jahres 2012 tagelang die ganze Stadt bewegte und bundesweit für Schlagzeilen sorgte. Für die Berufsfeuerwehr, die Freiwilligen Feuerwehren von Stadt und Landkreis München, die Werkfeuerwehren, das Technische Hilfswerk (THW), sämtliche Hilfsorganisationen, die privaten Rettungsdienste, die Polizei und gerade auch für die Anwohner begannen an jenem Montagmittag 35 bange Stunden, die wir alle nie mehr vergessen werden.
Rostige Kriegssouvenirs der Amerikaner wurden in München schon öfter gefunden – auch mitten in der Stadt. Die Entschärfung ist fast schon so etwas wie Routine geworden. Absperren, privaten Kampfmittelräumdienst rufen, die direkten Anlieger aus den Häusern holen, Umleitung und kurze Verkehrssperrung für die Dauer der Entfernung des Aufschlagzünders einrichten, auf Entwarnung warten – fertig. Meist ist das innerhalb weniger Stunden erledigt. Für alle Fälle stellen wir dafür immer Feuerwehr- und Sanitätskräfte sowie die Einsatzleitung vor Ort bereit. Passiert war bislang nie etwas.
Am 27. August, einem Montag, kratzte mittags die Baggerschaufel in der Feilitzschstraße hinter der Münchner Freiheit plötzlich auf Metall. Um 12.12 Uhr ging der Notruf bei uns ein. Eine rostige amerikanische Fliegerbombe, 250 Kilogramm schwer. Mit dem Zündkopf voran steckte sie fast senkrecht in der Erde. Die Arbeiter hatten sofort Reißaus genommen und Alarm geschlagen.
So viele umliegende Häuser, Geschäfte und Lokale räumt man natürlich nicht mal eben so im Handumdrehen. Zumal wir auch keine Angst schüren oder gar Panikreaktionen auslösen wollten. Zu großer Eile bestand zunächst aus unserer Sicht auch gar kein Grund. Aufgrund der prominenten Lage mitten in einem der meistfrequentierten Wohn- und Geschäftsviertel der Stadt wurde um 21.34 Uhr offiziell ein sogenanntes Koordinierungsbedürftiges Ereignis ausgelöst. Im Prinzip nur eine Formalie, um alle eingesetzten Kräfte (außer der Polizei) dem sogenannten Örtlichen Einsatzleiter – in der Fachsprache kurz ÖEL genannt – zu unterstellen. Dabei handelt es sich um einen Beamten des höheren feuerwehrtechnischen Dienstes, der im täglichen Dienstplan festgelegt ist und mit den Verantwortlichen der Stadt, der Sicherheitsfirmen und Spezialfirmen über das weitere Vorgehen berät.
Nach Rücksprache mit den beiden Sprengmeistern wurde der Zeitpunkt für die Entschärfung auf 21 Uhr festgesetzt. Bis dahin mussten 800 Bewohner, Wirte und Geschäftsleute die umliegenden Häuser verlassen. Ein undankbarer Job für Feuerwehrleute und Polizisten, die stundenlange Überzeugungsarbeit leisten müssen und nicht selten dafür auch noch schwach angeredet werden. Das jedoch ist alles Routine. Das haben wir schon oft erlebt. Ich lag zu diesem Zeitpunkt halb schlafend zu Hause auf dem Sofa und schaute mit meiner Tochter eine pädagogisch wertlose US-Komödie namens Brautalarm , nicht ahnend, was sich da in Schwabing gerade zusammenbraute.
Alle warteten also auf die übliche Erfolgsmeldung »Erledigt. Bombe entschärft«. Stattdessen passierte um 21.15 Uhr etwas höchst Ungewöhnliches. Der Sprengmeister rannte nämlich wie ein geölter Blitz zu unserem Kommandofahrzeug und sagte zunächst nur ein einziges Wort: »Scheiße!« Wenn Sprengmeister rennen und fluchen, ist meist etwas faul. Oberfaul sozusagen. Was er zu berichten hatte, sorgte auf der Stelle für Alarmstimmung. Das hier war nämlich keine Bombe mit dem bekannten Aufschlagzünder, sondern es handelte sich um einen chemisch-mechanischen Langzeitzünder mit Ausbausperre (umgangssprachlich auch Säurezünder genannt) – dieselbe infame Konstruktion, die im Jahr 2010 bereits drei erfahrene
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