Notruf 112
Kilometer vor der Stadt kommt. Ein Vater in völliger Panik, kurz vor dem Zusammenbruch. Er schreit ins Telefon: »Hilfe! Notarzt! Schnell! Meine Tochter lag im Gartenteich. Sie hat Wasser geschluckt, sie atmet nicht mehr. Sagen Sie mir, was ich machen soll.«
»Wie heißen Sie? Wo sind Sie?«
Uwe Graumer nennt seine Adresse, die ich sofort eingebe. Der Computer zeigt mir: eigentlich kein Fall für uns. Der Ort liegt außerhalb des Landkreises München im Zuständigkeitsbereich einer benachbarten Integrierten Leitstelle.
Die Integrierten Leitstellen in Bayern pflegen untereinander ein freundschaftliches und kollegiales Verhältnis. Man hilft sich, wo man kann, und mobilisiert selbst noch die eisernen Reserven, wenn es notwendig ist. So war es beim Pfingsthochwasser 1999, als große Teile Schwabens, Oberbayerns und des Allgäus in einer Jahrhundertflut versanken. Und auch bei der Schneekatastrophe im Februar 2006 im Bayerischen Wald waren die Berufsfeuerwehr und die Freiwillige Feuerwehr München mit jeder Menge Manpower, Technik und Fahrzeugen zur Stelle, um bis zur völligen Erschöpfung einsturzgefährdete Dächer von den tonnenschweren Schneelasten zu befreien. Uns Münchnern kommt in diesem Kooperationsgefüge eine besondere Rolle zu, weil die Feuerwehr einer Millionenstadt naturgemäß besser ausgestattet und breiter aufgestellt ist als die Feuerwehr einer Kreisstadt. Bis zu einem bestimmten Punkt lässt unser Oberbranddirektor uns da weitgehend freie Hand und keiner von uns hat je ein »Nein!« von ihm gehört. Wir dürfen nur unseren Zuständigkeitsbereich nicht vernachlässigen. Und er will natürlich stets auf dem Laufenden gehalten werden. Denn letztlich trägt er für alles die Verantwortung.
Auch im Rettungsdienst helfen sich die benachbarten Integrierten Leitstellen nach Möglichkeit immer aus. Genau das ist jetzt der Fall. Denn der Kollege in der Nachbarleitstelle hat in dem Bereich der Familie Graumer kein einziges Fahrzeug mehr frei. Zudem gibt es dort keinen Rettungshubschrauber, geschweige denn einen Kindernotarzt. Aber Säuglinge und Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, bei denen der Arzt nur die Dosis reduzieren muss. Kinder haben eine eigene Anatomie und Physiologie, die ein spezifisches Fachwissen erfordern. So übergibt der Kollege den Einsatz nun komplett an uns. Mein Kollege neben mir hat sich schon eingeschaltet und veranlasst die Alarmierung des Rettungswagens, Kindernotarztes und Notarztes. Da der Einsatzort so weit außerhalb der Stadt liegt, entscheiden wir uns für den Notarzt aus der Luft. Das melden wir auch immer der Polizei, die in solchen Fällen zur Absicherung des Landeplatzes und, falls notwendig, auch für den raschen Transport der medizinischen Crew zu Hilfe kommt.
Ab jetzt volle Konzentration auf Vater Uwe Graumer und sein Kind. Hier zählt jetzt jede Sekunde.
»Der Notarzt ist bereits zu Ihnen unterwegs. Ich sage Ihnen jetzt, was Sie tun müssen. Bleiben Sie am Telefon, bis ich Ihnen alles erklärt habe.«
»Das kann ich nicht. Ich habe doch so was noch nie gemacht.«
»Ich bleibe die ganze Zeit bei Ihnen. Kann Ihnen sonst noch jemand helfen? Ist Ihre Frau da? Oder vielleicht ein Nachbar?«
»Nein. Niemand. Wir wohnen hier allein. Meine Frau ist bei ihrer Mutter. Ich war in der Küche, und als ich wieder ins Wohnzimmer kam, war Lilli weg. Ich habe sie überall gesucht …«
»Später. Wie alt ist Lilli?«
»Drei!«
»Alles klar. Legen Sie sie auf den Rücken auf eine möglichst harte Unterlage.«
»Sie liegt auf dem Steinboden.«
»Gut. Hat Ihr Telefon eine Freisprecheinrichtung?«
»Ja. Ich mach sie an. Können Sie mich hören? Mein Gott, ihre Lippen sind blau, sie ist so blass …«
»Knien Sie sich neben sie, machen Sie den Oberkörper frei. Eine Hand auf die Stirn, die andere unter das Kinn und dann den Kopf vorsichtig, ich wiederhole: vorsichtig, nach hinten kippen.«
»Mach ich. Mein Gott, sie atmet nicht. Atme, Schätzchen. Bitte, bitte! Ich habe Angst, dass …« Seine Stimme kippt. Er darf jetzt nur nicht durchdrehen.
»Herr Graumer, wir machen jetzt eine Herzdruckmassage. Ich bin die ganze Zeit bei Ihnen …«
Und jetzt das volle Programm. Mund und Nase des Kindes von Fremdkörpern reinigen. Dann die Lippen um den Mund des Kindes legen und vorsichtig die Luft hineinblasen, bis sich der kleine Brustkorb hebt. Fünf Mal das Ganze. Doch die Atmung setzt nicht ein.
Also weiter. Mäßiger Druck mit dem Handballen auf die Brustkorbmitte, senkrecht
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