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Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten

Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten

Titel: Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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vergangen. Ich verließ sie nicht für einen Tag oder eine Woche. Ich verließ sie für immer. Mit Entlassungspapieren, dem Lohn für die letzten Monate und allem Drum und Dran. Alles nach Vorschrift. Ich hatte abgeschlossen mit dem Ozean.
    Nicht, daß mir dieses Leben nicht gefallen hätte. Es war eine seltsame Art über die Runden zu kommen, aber es funktionierte. Ich konnte mir nur nicht vorstellen, daß es wirklich immer und ewig so weitergehen würde. Wenn du Matrose bist, ist das was anderes, das Meer ist dein Zuhause, du kannst dort bleiben, bis du krepierst, und das ist in Ordnung so. Aber einer, der Trompete spielt … Wenn du Trompete spielst, bist du auf dem Meer ein Fremder und wirst es immer bleiben. Früher oder später ist es besser, wenn du wieder nach Hause gehst. Dann lieber früher, sagte ich mir.
    »Dann lieber früher«, sagte ich zu Novecento. Und er verstand. Es war offensichtlich, daß er nicht gerade erpicht darauf war, mich auf diesem Steg für immer von Bord gehen zu sehen, aber gesagt hat er es mir nie. Das war auch besser so. Am letzten Abend, wir spielten gerade für die üblichen Schwachköpfe aus der ersten Klasse, wurde es Zeit für mein Solo, ich begann zu spielen, und schon nach wenigen Tönen hörte ich, wie das Klavier mir folgte, leise und sanft, aber es spielte mit mir zusammen. Wir machten gemeinsam weiter, und ich spielte, was das Zeug hielt, mein Gott, ich war nicht Louis Armstrong, aber ich spielte richtig gut, mit Novecento hinter mir, der mir überallhin folgte, wie nur er es konnte. Sie ließen uns eine ganze Weile so weitermachen, meine Trompete und sein Klavier, zum letzten Mal, so daß wir uns alles sagen konnten, was man sich mit Worten niemals sagen kann. Die Leute ringsumher tanzten weiter, sie hatten nichts gemerkt, sie konnten auch gar nichts merken, was wußten sie schon, sie tanzten weiter, als ob nichts wäre. Vielleicht hatte ja einer zum anderen gesagt: »Sieh mal, der da mit der Trompete, komischer Typ, der ist wohl blau, oder nicht ganz dicht. Sieh mal, der da mit der Trompete: Der spielt und weint dabei.«
    Wie es dann lief, als ich von Bord gegangen bin, ist eine andere Geschichte. Womöglich hätte ich sogar was Vernünftiges zustande gekriegt, wenn nicht dieser verdammte Krieg dazwischengekommen wäre, ausgerechnet. Er hat alles soviel schwerer gemacht, man sah überhaupt nicht mehr durch. Man hätte viel Köpfchen gebraucht, um sich da noch zurechtzufinden. Man hätte Fähigkeiten gebraucht, die ich nicht hatte. Ich konnte Trompete spielen. Es ist erstaunlich, wie sinnlos es ist, auf einer Trompete zu spielen, wenn du rings um dich her Krieg hast. Und in dir auch. Und er dich nicht losläßt.
    Jedenfalls hörte ich von der Virginian und von Novecento jahrelang überhaupt nichts mehr. Nicht daß ich sie vergessen hätte, ich habe immer an sie gedacht, unwillkürlich fragte ich mich immer wieder: »Wer weiß, was Novecento jetzt machen würde, wenn er hier wäre, wer weiß, was er sagen würde, ›ich scheiß auf den Krieg‹ würde er sagen«, aber wenn ich das sagte, war es nicht das gleiche. Es lief so schlecht, daß ich manchmal die Augen schloß und an Bord zurückkehrte, in die dritte Klasse, zu den Auswanderern, die Opernarien sangen, und zu Novecento, der wer weiß was für Musik spielte, zu seinen Händen, seinem Gesicht, dem Ozean ringsumher. Ich ging in meiner Phantasie, in meiner Erinnerung dorthin, manchmal bleibt dir nur das noch zu deiner Rettung, sonst gibt es nichts mehr. Ein Armeleutetrick, aber er funktioniert immer.
    Mit einem Wort, diese Geschichte war zu Ende. Sie schien wirklich zu Ende zu sein. Dann bekam ich eines Tages einen Brief, Neil O’Connor hatte ihn geschrieben, der Ire, der in einer Tour Witze machte. Diesmal war es aber ein ernster Brief. Darin stand, daß die Virginian total ramponiert aus dem Krieg zurückgekommen war, man hatte sie als schwimmendes Lazarett eingesetzt, und am Ende war sie so runtergewirtschaftet, daß man beschlossen hatte, ihr endgültig den Rest zu geben. Das bißchen Mannschaft, das noch geblieben war, war in Plymouth von Bord gegangen, man hatte sie mit Dynamit vollgepackt, und früher oder später würde man sie aufs offene Meer hinausbringen, um ein für allemal Schluß zu machen: Bum und aus. Darunter ein Postskriptum. Und da stand: »Hast du mal hundert Dollar? Du kriegst sie garantiert zurück.« Und darunter noch ein Postskriptum. Und da stand: »Und Novecento ist nicht von Bord

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