November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
gingen, die älteste hatte grade ihr Lehrerinnenexamen bestanden. Ihr Einkommen hatte die adlige Familie hauptsächlich aus baltischen Gütern der Frau bezogen, damit aber war es seit Kriegsbeginn und nun erst seit der bolschewistischen Revolution vorbei. Man stand der tapferen Witwe bei. Sie beschränkte sich auf drei Zimmer, die vier besten vermietete sie, half selbst mit den jungen Töchtern bei der Bedienung. In ihrer Wohnung im ersten Stock gingen nun mit derselben Regelmäßigkeit wie in der darüber gelegenen viele Personen ein und aus, aber nur in Nachmittagsstunden, es waren straffe, aufrechte Männer, jüngere und ältere, offensichtlich aus dem Militärstand. Trinkgelder gaben diese Personen der Portierfrau nie, und insofern schnitt Frau Julie mit ihrer Tagwache schlechter ab als ihr Blinder. Was aber nicht verhinderte, daß der Blinde, als ehemaliger Soldat, sich lebhaft auch für diese Besucher, seine früheren Herren, interessierte und sich von der Frau Räubergeschichten über sie erzählen ließ. Der Wirtin war das merkwürdige Ein und Aus bei der adligen Familie nicht unbekannt. Aber sie akzeptierte es mit Vergnügen. Es waren ja Herren – sie kannte durch die Töchter die Namen einiger – mit den hervorragendsten Beziehungen, ja Männer aus Ministerien.
Wir wundern uns nicht – denn wir wissen, die Welt ist eng –, wenn wir an diesem Mittwoch, dem Tag der Beisetzung der Revolutionsgefallenen, schweren Schritts eine Figur zum ersten Stock heraufsteigen sehen, die uns bekannt vorkommt. Der kräftige ältere Mann trägt einen schwarzen Ledermantel, hat auf dem Kopf einen grünlichen Jägerhut; sein Gesicht ist fahl, finster, ernst; auf der Oberlippe sitzt ihm ein schmaler grauer Bürstenschnurrbart. Ein kleines Mädchen öffnet, fragt unsicher, währenddessen öffnet sich schon eine Tür, ein Herr blickt heraus, er geht rasch zur Tür, fixiert den andern. Der nennt seinen Namen. »Ah!« Es ist unser Major, den wir zuletzt in Straßburg trafen. Mit einer kurzen Verbeugung wird er hereingebeten und blickt sich erstaunt um in dem eleganten Raum, der ein Gemisch von Salon und Büro ist. Nicht weniger als drei Fräulein tippen am Fenster Maschine. An der Wand hängen Landkarten, Kurven, Zeitungsausschnitte. Der Major reißt die Augen auf: »Ihr seid aber groß. Bißchen der Zeit voraus.« Man lächelt harmlos zurück: »Warum? Bitte? Wir sind Beratungsstelle für abgebaute Offiziere. Herr Major kommen von den Beerdigungsfeierlichkeiten?« »Nee, durchaus nicht. Hab’ keinen Bedarf an kalten Füßen.« »Herr Major hätten Liebknecht hören müssen.« »Danke gehorsamst. Ganz Berlin ist mir rätselhaft. Hier wäre doch verschiedenes wunderbar leicht zu beenden.«
Ganz oben die dritte Etage stand leer, seit dem ersten Kriegsjahr. Reflektanten stellten sich seit einem Jahr in Masse ein, die Wirtin hatte aber eine Scheu, jeden beliebigen anzunehmen, sie plante selbst irgend etwas mit diesen Räumen, wußte aber nicht was. Sie hatte das richtige Gefühl, es könnte sich hier im Haus das eine oder andere noch auswachsen und Räume beanspruchen.
Maurice Barrès
Die amerikanische Armee bewegte sich über Longwy auf Luxemburg zu. Sie trat in eine hüglige nebelüberzogene Landschaft ein. Die Hügel trugen herbstlich schwarze Baumgerippe, überall lag unter den Bäumen altes welkes Laub, dicht vom Regen zusammengebacken, zu Erde zerfallend. Über manche Höhen schoben sich gleichmäßige kleine Häuser, Arbeiterwohnungen. Grünlichgraue Bäche und Wasserläufe rannen allenthalben. Es gab Höhen, wo sich inmitten der traurigen schwarzen Stämme mächtige große Tannen erhoben, dunkelgrüne stolze Wesen, die unbeweglich auf die Truppen herabsahen. Immer wieder breiteten sich graugrüne Wiesen aus, erfrorenes oder ertrunkenes Gras. Kein Tier lief, kein Vogel flog. Aber die Kolonnen marschierten mit ihren Kanonen und Maschinengewehren fröhlich und sangen. Sie sahen Bäume, die giftgrün angelaufen waren, um manche wickelten sich Schlingpflanzen mit Blattwerk vom Fuß bis zum Wipfel. In manchen Lichtungen hatten Bäume ganze Wolken rötlichen Laubs von sich abgeschüttelt, es lag da und leuchtete.
Gewaltige Schornsteine stellten sich ein, man geriet in das Hochofengebiet. Bei St. Martin erhoben sich Riesenretorten im Freien, haushoch, grau und rostig, daneben Laufbahnen, Hallen und Baracken. Eisenbahnzüge in der Nähe zerrissen das Ohr mit ihren Pfiffen. Und wieder graugrüne Flächen und am Horizont Qualm aus
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