November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
infame Skepsis. Laß dich nicht gehen. Ich sage dir ja, es geht um unsere Existenz! Entweder Ebert oder der Kaiser oder – (er stöhnte) Liebknecht. Nichts ist sicher. Wie soll man sich herausfinden. Ich kann von heut auf morgen ruiniert sein, wenn sie meine Waggons an der holländischen Grenze beschlagnahmen.« »Du sagtest doch, der Geldwert sinkt. Du verdienst inzwischen.« Brose hielt sich die Ohren zu: »Du redest von Verdienst, und ich sehe alles hinschmelzen. Wo bleibt bloß Schneider?« »Welcher Schneider?« »So heißt der Redakteur.«
Und er kam, er watschelte an, sah blaß, welk, alt, klein, mit völligem Glatzkopf wie ein müder Säugling aus, den man am liebsten zu Bett legen möchte. Brose stürzte sich auf ihn. Das Spiel mußte schon begonnen haben, denn außer zwei lesenden Herren und der Dame mit dem schneidigen Schnurrbart war niemand mehr da. Brose stellte Motz dem Redakteur vor: »Mein Freund Motz, erster Inspektor auf einem märkischen Rittergut, Bauernrat.« Der Redakteur machte eine respektvolle Bewegung: »Ah, Sie kommen zu dem Bauernkongreß, Sie müssen mich nachher informieren, die Bauernfrage kann entscheidend werden.« Motz begann prompt: »Wir klagen besonders über das Futter, die Futtermittel.« Der Redakteur hatte es eilig, aber Brose hielt ihn bei den Schultern fest: »Mein Verehrter, Sie waren bei der Beerdigung?« »Wer ist schon wieder gestorben?« »Bei den Märzgefallenen.« Der müde Mann klagte: »Was denken Sie. Ich bin den ganzen Tag deswegen unterwegs. Verschonen Sie mich am Abend. Aber was sagen Sie zu Liebknecht?« »Ja, was sagen Sie«, flüsterte Brose, aufs äußerste gespannt, »ist es wahr, ist er wie Lenin?« Der müde Redakteur: »Wir brauchen eine starke Hand. Vielleicht ist er’s. So was aus dem Gefängnis zu entlassen. Der Mann ist eine ganze feindliche Armee. (Er flüsterte und blickte zu Boden.) Totschlagen! Verrückt ist er. Ein Brandstifter. Irrenhäusler.« Brose begeistert: »Glauben Sie?« »Und was sagen Sie zum Ausland?« »Das Volk will Ruhe.«
Der müde Mann hatte alle Taschen voller Zeitungen, er arbeitete an sich herum und zog eine mächtige Zeitung, Auslandsformat, hervor. Er blickte um sich, der Raum war leer, sogar die Dame war verschwunden, er führte Brose unter ein hohes helles Lampenstativ in der Rauchecke. »Hören Sie sich das an«, klagte er und setzte sich eine Hornbrille auf, »das Ausland unterstützt ihn.« »Rußland, Moskau.« »Nein, die Entente! Ebert hat vor einer Woche etwas ganz Vernünftiges gemacht; er hat im Namen der Regierung die Vereinigten Staaten um Hilfe, Lebensmittelsendung, gebeten. Hier steht der Text, ganz vernünftig, es ist der französische ›Temps‹; ich übersetze: ›Die Deutsche Regierung bittet die Regierung der Vereinigten Staaten, dem deutschen Reichskanzler drahtlos mitzuteilen, ob er damit rechnen kann, daß die Regierung der Vereinigten Staaten bereit ist, Lebensmittel nach Deutschland zu senden, falls die Ordnung in Deutschland aufrechterhalten bleibt und eine gerechte Verteilung der Lebensmittel verbürgt ist.‹« Brose: »Sehr richtig, sehr richtig. Er dachte an die Armen.« »Natürlich. Und nun hören Sie, was die Entente daraus macht. Der ›Temps‹: ›Die Formel ist Wilson durch den Reichskanzler suggeriert worden. Als Herr Ebert anbot, diese Bedingungen seinen Mitbürgern aufzuerlegen, dachte er nicht allein daran, sein Land zu verpflegen, sondern er suchte auch seine Regierung zu festigen. Er wollte gegen seine Kollegen von der Minderheitsfraktion sagen: Wir werden Lebensmittel erhalten, wenn ihr mich die Ordnung aufrechterhalten läßt. Mit aller Bestimmtheit hat der Präsident Wilson (er hat nämlich prinzipiell zugestimmt), hat der Präsident Wilson nicht die Absicht gehabt, weder Herrn Ebert (hören Sie!) noch Herrn Solf, noch Herrn Erzberger ein furchtbares Zwangsmittel zu liefern. Aber es wäre erstaunlich, wenn die Mehrheitssozialisten und die ehemaligen Diener Wilhelms II. sich nicht beeilten, mit ihrer gewohnheitsmäßigen Unehrlichkeit die Antwort auszubeuten, die ihnen Präsident Wilson loyalerweise gegeben hat.‹«
Brose: »Dann soll wohl Liebknecht verteilen. Dabei sind sie doch selbst Kapitalisten, die Franzosen.« Schneider nahm die Brille ab und schwenkte verzweifelt das Blatt: »Die Leute drüben wissen nichts. Sie kennen Ebert nicht. Natürlich hat er mit durchgehalten im Krieg und hat Deutschland nicht an die Entente verraten, aber er haßt doch die Revolution so
Weitere Kostenlose Bücher